Ahmet Ümit: Nacht und Nebel
(Sis ve Gece, 1996. Aus dem Türkischen von Wolfgang Scharlipp)
Unionverlag, Zürich 2005
365 S., EUR 19.90; SFr 34.90
ISBN: 3-293-10002-3
Vom Untergrundkämpfer zum Krimiautor
Sedat arbeitet als Agent im türkischen Geheimdienst. Er hat ein trautes Heim in Istanbul, eine liebe Frau, zwei Kinder und Mine, seine heimliche Geliebte, mit der er sich regelmässig in ihrer Wohnung trifft. Nach der Aushebung eines angeblichen terroristischen Nestes bleibt sie verschwunden und Sedat gerät in einen Hinterhalt und wird verwundet. Den einen Attentäter schiesst er noch nieder, der andere entkommt. Sobald Sedat aus dem Spital entlassen ist, macht er sich auf die Suche nach dem flüchtigen Attentäter. Ebenso versucht er herauszufinden, wo seine Geliebte geblieben ist. Ist sie ihrem neuen Freund gefolgt? Hatte sie vielleicht doch Kontakt zum politischen Widerstand? Wurde sie, ohne dass er es merkte, als Spionin gegen ihn eingesetzt? Oder hat sie sich einfach für einige Zeit ins Ausland abgesetzt? Noch immer spürt er die alte Liebe zu ihr in sich brennen. Doch langsam kommt Sedat dem Rätsel auf die Spur und gelangt dabei auf eine erschreckende Feststellung: Er selber ist nicht nur der überlegene Suchende, der ein Puzzle Stück um Stück zusammensetzt, sondern gleichzeitig der schuldige Gesuchte.
Der schon vor 10 Jahren in der Türkei erschienene Roman ist ein Kriminalroman, ein Politthriller, eine Darstellung der erschreckenden Arbeitsweise des türkischen Geheimdienstes und eine Beschreibung gesellschaftlicher Zustände in der Türkei. Das macht das vielseitige Buch von Ahmet Ümit so spannend.
Der Autor war in seiner Jugendzeit selber im politischen Widerstand und in der kommunistischen Partei aktiv engagiert, bis er sich von allem löste und zu schreiben begann. Selber sagt er dazu, dass er mit seiner Tätigkeit als Literat mehr bewirken und mehr Leute erreichen könne als mit politischer Aktivität. Auch habe sich sein Weltbild gewandelt: Er möchte nicht mehr einseitige politische Slogans verfassen und die Menschen in gute und böse unterteilen, sondern mit seinen Büchern zeigen, wie nahe sich Gut und Böse in jedem Menschen kommen. Das wird auch an der Hauptfigur des vorliegenden Romans deutlich. Beim Lesen ist Sedat sowohl eine sympathische Identifikationsfigur, mit der man gerne Kapitel um Kapitel mitgeht, aber gleichzeitig auch ein widerlicher Agent, der vor keinen noch so unmenschlichen Mitteln zurückschreckt. Auch dass Sedat am Schluss des Buches vom Jäger zum Opfer wird, zeigt deutlich, wie sich die Fronten verändern und auflösen.
Michael Schwarz
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