Verfassung und Verfassungswirklichkeit im neuen Südafrika – was können Sie dazu aus den Erfahrungen der vergangenen 15 Jahre sagen? Was haben Sie selbst nach langen Jahren des Befreiungskampfes in Ihrer Arbeit als Verfassungsrichter empfunden?
Albie Sachs: Ich möchte eingangs etwas zur Wirkung dieser neuen Verfassung auf mich ganz persönlich sagen. Ich habe in den 1950er-Jahren an der Universität Kapstadt Jura studiert. Ich hörte in den Hörsälen all die schönen Worte von der Macht der Gesetze, der Unabhängigkeit der Justiz, von Gerechtigkeit und Freiheit, ich studierte das, legte Prüfungen ab. Abends trat ich in einer halblegalen Studiengruppe in einer der Townships vor Menschen aus einfachen sozialen Verhältnissen auf. Es gab keine Elektrizität, im Kerzenlicht sah man nur die Gesichter der Anwesenden, dort erlebte ich eine Leidenschaft für Recht und Gerechtigkeit, die alles übertraf, was ich an der Universität erfuhr. Diese Menschen waren bereit, ihr Leben für Freiheit und Gerechtigkeit in Südafrika zu geben.
Später als Anwalt fühlte ich mich zwischen diesen beiden Realitäten hin und her gerissen. Ich gehörte vollständig zu keiner der beiden. Erst als ich fast 40 Jahre danach in den 1990er-Jahren mitwirken konnte an der Erarbeitung der Verfassung für ein demokratisches Südafrika, konnte ich diese beiden Realitäten miteinander verbinden. Plötzlich stellte ich fest, dass all die grossen Worte aus den Hörsälen für die Besitzlosen, die Menschen am Rande der Gesellschaft, sehr bedeutsam sein können. Die Leidenschaft und Vitalität der Menschen, die am meisten unter Ungerechtigkeit gelitten hatten, gab einer solchen Verfassung eine neue Bedeutung und Wirksamkeit. Dieses Zusammenführen der beiden Realitäten war für mich wie eben auch für die Nation insgesamt sehr heilsam. Damals spürten wir, dass wir in einem Land zusammen gehörten. Es war natürlich notwendig, Instrumentarien zu schaffen, damit all diese abstrakten Prinzipien konkret wirksam wurden für die einfachen Menschen. Darin sehe ich auch meine Aufgabe am Verfassungsgericht. Nur ein kleines, aber symbolisches Detail: Im Gericht sitzen Richter und die unterschiedlichen Parteien auf gleicher Augenhöhe. Wir betrachten uns als Diener der Verfassung.
Für mich ist die Arbeit am Verfassungsgericht wundervoll, es ist eine Fortsetzung des Kampfes für Humanität, Würde und Gleichheit, nicht im politischen Kampf um Macht und Wählerstimmen, sondern hinsichtlich der Werte. Als Richter sind wir unabhängig, wir streben nicht nach politischen Positionen, sondern nach Prinzipien. Ich empfinde meine Arbeit als Fortsetzung des Befreiungskampfes. Nach der ersten Hälfte meines Lebens, in der ich gegen ein Regime kämpfte, um es zu zerstören, streite ich nun für etwas Neues, etwas Positives.

Aussöhnung war ein Markenzeichen für Nelson Mandela, als er 1994 Präsident Südafrikas wurde. Aussöhnung ist auch Ihr persönliches Anliegen gewesen. Wie schätzen Sie heute den Erfolg dieser Bemühungen ein, in einem immer noch tief gespaltenen Südafrika?
Wir haben bei uns ein Wort „Ubuntu“, ein zutiefst philosophischer Ausdruck mit der Aussage: Ich bin ein Mensch, weil du ein Mensch bist, ich kann meine Menschlichkeit nicht vom Verständnis für deine Menschlichkeit trennen. Es wird in der traditionellen afrikanischen Gesellschaft häufig verwendet, um Streit und Konflikte zu lösen, um Menschen wieder zusammen zu bringen. Die Verfassung hat dazu Regeln festgelegt. Aber wir brauchten auch eine Wahrheits- und Versöhnungskommission, um mit dem Unrecht, dem grossen Schmerz und den Lügen der Vergangenheit fertig zu werden. Es gibt viele Menschen, die diesen Prozess aus unterschiedlichen Sichten kritisieren. Ich persönlich habe das als einen bereichernden positiven Prozess empfunden.
Was mich selbst betrifft, so habe ich den südafrikanischen Militär getroffen, der die Bombe in meinem Auto im Exil in Mosambik installiert hat, durch die ich meinen rechten Arm und auf einem Auge das Augenlicht verlor. Er bat um das Treffen, da er zur Wahrheits- und Versöhnungskommission gehen wollte. Ich stimmte zu. Es war seltsam, wir sahen uns an – ich ihn, der mich töten wollte, und er mich, sein Opfer. Keiner von uns beiden hatte den anderen zuvor gesehen, keiner hatte mit dem anderen persönlich Streit gehabt. Aber wir hatten auf verschiedenen Seiten einer ideologisch geteilten Welt gestanden. Und jetzt hörten wir auf Feinde zu sein und begegneten uns als Menschen. Nachdem er dann zur Wahrheitskommission ging und dort sein Wissen offen legte, integrierte er sich – so sehe ich das – als Bürger dieses Landes. Und ich konnte seine Hand schütteln. Er war sehr bewegt, ich hörte, er habe zwei Wochen lang geweint.
Es war, wie ich es nenne, Teil meiner „weichen Rache“. Harte Rache ist, wenn ich Gleiches mit Gleichem vergelte. Weiche Rache ist, wenn Werte für die ich gestritten habe, jetzt als gemeinsame Werte akzeptiert werden – Demokratie, Gesetzlichkeit, Freiheit, Respekt für alle. Ich fühlte mich sehr bestärkt, ich fühlte mich auch befreit, nachdem ich ihn getroffen habe. Dieses Gefühl hat mich sehr beeinflusst, überraschenderweise auch meine Tätigkeit als Richter. Sehr oft, wenn es um Dinge geht wie Beleidigung, Ehrverlust, Kränkung etc., plädiere ich dafür, statt finanzieller Entschädigung eine Ehrenerklärung oder Entschuldigung zu erwägen, ganz in der afrikanischen Tradition. Im Falle der Bestrafung bin ich dafür, eine Gefängnisstrafe zu vermeiden, um eine Rehabilitierung zu ermöglichen. Diese Ubuntu-Philosophie hat starkes Gewicht in der afrikanischen Gesellschaft und kann eine wichtige Rolle spielen angesichts einer oft starren, inflexiblen und kalten Gesetzgebung. Ich habe dazu gerade ein Buch veröffentlicht: „Die seltsame Alchimie von Leben und Gesetzlichkeit“.
Mein Weg zum Verfassungsrichter war ungewöhnlich. Der schloss ein die Arbeit als Anwalt in Kapstadt und gleichzeitig illegale politische Tätigkeit, dann Verhaftung und lange Einzelhaft ohne Kontaktmöglichkeiten, Folter durch Schlafentzug, dann das Exil, den Bombenanschlag, nach der Rückkehr die Mitarbeit an der Verfassung und schliesslich die Berufung als Richter. Oft steht die Frage des Umgangs mit schweren Verbrechen gegen die Menschlichkeit durch unsere ehemaligen Gegner. Statt auf ihre Verbrechen mit der vollen Härte des Gesetzes zu reagieren, sollten wir uns von ihnen unterscheiden. Alle meine Kollegen am Verfassungsgericht haben sehr unterschiedliche Lebenserfahrungen, vom Robben-Island-Häftling bis hin zu Richtern, die bereits im alten Südafrika ihre Karriere gemacht haben. Wir alle verstehen uns in der Anwendung einer neuen demokratischen Rechtskultur in Südafrika.

Wie sehen Sie die Rolle der Justiz in Südafrika? Es gibt immer wieder Diskussionen über bevorstehende Veränderungen, wie ist Ihre Meinung dazu?
Veränderungen gehören zur Entwicklung der Demokratie. Die Verfassung wird von allen Seiten in hohem Masse respektiert und unterstützt. Das Verfassungsgericht steht in hohem Ansehen. Es ist eine sehr stabile Institution. Einzelne Richter wechseln. Gegenwärtig nach den ersten 15 Jahren werden vier von den 11 Richtern ausgewechselt. Wir werden neue Richter bekommen. Es gibt eine solide Basis, auf die wir uns stützen können, wir haben viele anerkannte Richter. Unsere Nachfolger werden unsere Arbeit nicht nur fortsetzen, sondern noch weiter verbessern. Die erste Generation legte die Grundlagen. Unsere Rechtssprechung ist international anerkannt, insbesondere auch in Afrika. Sie repräsentiert die Werte einer offenen und demokratischen Gesellschaft.

Sind die Menschenrechte in der südafrikanischen Verfassung ausreichend verankert, sehen Sie Bedarf für weitere Verbesserungen?
Die Menschenrechte sind als Eckpfeiler in der Verfassung verankert, unmittelbar nach der Präambel noch vor den Machtstrukturen des Staates. Wir haben sechs Jahre darüber verhandelt, ich sehe dort alle wichtigen Elemente vorhanden. Wir haben uns an Verfassungen aus der ganzen Welt orientiert. Es kann Veränderungen hinsichtlich organisatorischer Aspekte der Machtorgane geben, die Grundrechte werden jedoch noch weit über unsere Generation hinweg gelten.

Inwieweit stellen die jüngsten Wahlen in Südafrika und die Präsidentschaft von Jacob Zuma eine neue Ära in der Entwicklung des Landes dar?
Als Richter kann ich natürlich politische Entwicklungen nicht kommentieren. Aber ich möchte auf zwei Verfassungsprinzipien hinweisen, die auch von vielen Kommentatoren erwähnt werden. Der Staatspräsident hat zwei Amtszeiten, und es gibt keine Hinweise darauf, dass sich das ändert. Präsident Zuma hat sogar von nur einer Amtszeit gesprochen. Zum anderen hat sich erwiesen, dass der Führer der regierenden Partei durch eine demokratische Abstimmung ersetzt werden kann. Es bedarf weder eines Militärputsches noch Ähnlichem, um einen Wechsel herbeizuführen. Demokratie hat triumphiert.
Die Menschen in Südafrika haben darüber zu befinden, was sie von der Präsidentschaft halten, von Jacob Zuma und der Politik des ANC. Ich kannte Jacob Zuma sehr gut während meines Exils in Mosambik. Auf persönlicher Ebene glaube ich, dass wir einander schätzen. Ich glaube, dass sich zwischen der Exekutive und dem Präsidenten einerseits und anderen Strukturen des Staates andererseits eine Atmosphäre der Partnerschaft entwickelt. Sie ist nicht zu eng, weil jeder seine Rolle zu spielen hat, aber die Atmosphäre ist auch nicht destruktiv und kompetitiv. Wir haben unterschiedliche Aufgaben unter dem gleichen konstitutionellen Dach zu erfüllen. Ich bin hoffnungsvoll, dass sich jetzt ein Gefühl des gegenseitigen Respekts entwickelt zwischen Parlament, Exekutive und der Justiz, ein institutioneller Respekt, nicht einfach Freundschaft und Höflichkeit. Unser Land wird davon profitieren.
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Das Verfassungsgericht
Die südafrikanische Verfassung von 1996 hat erstmals in der Geschichte des Landes ein Verfassungsgericht vorgesehen. Seine Struktur  entspricht in etwa dem des deutschen Verfassungsgerichts als Hüter der Verfassung.
Amtssitz ist Johannesburg. An den Gerichtshof werden elf Richter für eine einmalige Amtszeit von zwölf bis fünfzehn Jahren berufen. Die Ernennung erfolgt durch den Staatspräsidenten nach Konsultation mit der Judicial Commission und dem Parlament.
Der Gerichtshof steht an der Spitze des Gerichtswesens und ist die letzte Instanz zur Überwachung der Grundrechte. Er hat das letzte Wort in Streitfragen verfassungsrechtlicher Natur zwischen den Staatsorganen. Er interpretiert die Verfassuzng in folgenden Bereichen:
– Überwachung der einhaltung von Grundrechten;
– Überprüfung der Verfassungsmässigkeit von Gesetzen und Verordnungen;
– Schlichtung von Organstreitigkeiten auf allen Ebenen über die Auslegung der Verfassung.
Das Verfassungsgericht hat sich in seinen bisherigen Entscheidungen als bemerkenswert unabhängig gezeigt und eine Reihe von Entscheidungen mit Meilensteincharakter getroffen, u.a. die Legalisierung der gleichgeschlechtlichen Ehe.
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Das Interview erschien in afrika süd, der Zeitschrift der Informationsstelle Südliches Afrika e.V. (issa), Ausgabe Nr. 4 des 38. Jahrgangs, Juli/August/September 2009. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung