Amalia van Gent: Leben auf Bruchlinien – die Türkei auf der Suche nach sich selbst
Basel, 16.02.2009/akte Die Türkei ist Mitglied der Nato, sucht den Anschluss an Europa und unterhält gute Beziehungen zu Israel. Gleichzeitig hat sie eine islamische Regierung und gewisse Kreise träumen manchmal von einer Vereinigung mit den turksprachigen Republiken der ehemaligen Sowjetunion. Ist sie ein nach Osten orientiertes, islamisch-konservatives Land oder ist sie nicht doch sehr europäisch, jedenfalls mindestens so europäisch wie die neuen Mitglieder der EU, Bulgarien und Rumänien? Ist die Türkei ein Militärstaat oder eine Demokratie?
Wer sich mit solchen Fragen beschäftigt, bekommt mit diesem Buch von Amalia van Gent zwar keine endgültige Antwort, wohl aber Anregungen, Fakten und Informationen zu den historischen Hintergründen, der Entwicklung der letzten Jahrzehnte, dem Umgang mit Minderheiten, der Bedeutung der Religion und des Militärs. Die langjährige Türkei-Korrespondentin der Neuen Zürcher Zeitung beschreibt die Türkei entlang ihrer Bruchlinien und „auf der Suche nach sich selbst“, wie es im Untertitel heisst. Eine davon ist der Genozid an den Armeniern zu Beginn des letzten Jahrhunderts, bis heute ein Tabu in der Türkei. Amalia van Gent widmet ihr Buch dem armenischen Journalistenkollegen Hrant Dink, der im Januar 2007 ermordet wurde.
Jedes Kapitel zeichnet quasi eine Bruchlinie nach, die sich mit vielen andern durch die türkische Gesellschaft zieht. Da ist zum Beispiel jene zwischen der Türkei und ihrer grössten Minderheit, den Kurdinnen und Kurden. Nichttürkische „Elemente“ passten nicht in die von Mustafa Kemal Atatürk (Vater der Türken) 1923 gegründeten Republik. Sie wurden unterdrückt, umgesiedelt und als nichtexistent erachtet. Es gab lediglich „Bergtürken“. Die kurdische Sprache war bis weit in die Neunzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts verboten. 1984 griff die kurdische Guerilla zu den Waffen. Bis heute ist keine Lösung in Sicht und die Haltung des Staates ist widersprüchlich.
Überlagert wird diese Bruchlinie zudem von der Beziehung der Türkei zu ihren Nachbarn, Iran, Irak und Syrien, wo ebenfalls Millionen Kurden leben, sowie von den Irakkriegen. Der letzte machte die erdölreichen Provinzen Nordiraks zu einem praktisch selbstverwalteten Gebiet der irakischen Kurden – zum Leidwesen der Türkei, die eine ähnliche Entwicklung im eigenen Land befürchtete.
Van Gent versteht es, die verschiedenen Bruchlinien zueinander in Beziehung zu setzen und die historischen Hintergründe so zu beleuchten, dass komplizierte Entwicklungen nachvollziehbar werden. Dabei ist das Buch ein gut lesbares Werk. Aufgelockert werden die faktenreichen Kapitel mit reportageähnlichen Einschüben etwa zur Musik, zur türkischen Küche oder auch zum Kampf um die verbotenen, im Türkischen nicht verwendeten kurdischen Buchstaben Q, W und X.
Die Fotografin Linda Herzog steuert ein eigenes Kaleidoskop Anatoliens bei. Die Bilder erzählen jeweils eine eigene Geschichte und ermöglichen einen weiteren Blick auf diese mehrfach und immer wieder anders gebrochene Realität, die gleichzeitig die Faszination des Landes ausmacht. Ergänzt wird das Buch mit einer Chronologie, die einen raschen Überblick ermöglicht. Gewünscht hätte man sich allenfalls ein Glossar und ein Personenregister.
Amalia van Gent: Leben auf Bruchlinien, Die Türkei auf der Suche nach sich selbst. Farbfotos von Linda Herzog. Rotpunktverlag Zürich, 320 S., SFr. 38.–; ISBN 3-85869-377-4