Basel, 21.10.2013, akte/ Die einst bäuerlich geprägte Schweiz erlebte ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine stürmische wirtschaftliche Entwicklung. Es entstand eine vielfältige Industrie, in der Textilien, Maschinen, Uhren, chemische Erzeugnisse und andere Produkte hergestellt wurden. 1960 betrug die Zahl der Erwerbstätigen 2,8 Millionen, davon waren weit über 40 Prozent in Industrie und Gewerbe tätig. Seither nahm die Bedeutung der Dienstleistungen rasant zu. Immer mehr Leute arbeiteten an Schreibtischen, hinter Verkaufstheken, an Telefon und Computern, in Banken und Versicherungen, in der Bildung, Pflege, Reinigung und im Service zum Wohl der Gäste von Restaurants sowie in Freizeit- und Tourismuseinrichtungen. Seit 1960 wuchs die Zahl der Erwerbstätigen von 2,8 auf 4,5 Millionen im Jahr 2009, und dieses Wachstum basierte ausschliesslich auf den Dienstleistungsbranchen. Heute arbeiten 70 Prozent der schweizerischen Beschäftigten im Dienstleistungssektor. Das sind über 3 Millionen Menschen.
Die Zunahme der Beschäftigten in Dienstleistungsberufen – den sogenannten "white collar jobs" – war mit der Vorstellung des sozialen Aufstiegs verbunden. In der öffentlichen Wahrnehmung herrscht der Glaube, die Schweiz sei im Wesentlichen eine Mittelschichts- und Angestelltengesellschaft, in der die Mehrheit anständig verdiene. Diesem Mythos rücken die GewerkschafterInnen Vania Alleva, Andreas Rieger und Pascal Pfister in ihrem Buch "Verkannte Arbeit" zu Leibe mit harten Fakten, fundierten Analysen und interessanten Zeugenaussagen von Dienstleistenden. Zwar verleihen Banker oder Informatiker der Dienstleistungsbranche ein Wohlstandsimage. Doch zwei Drittel der Dienstleistungsangestellten verdienen weniger als 6’000 Franken im Monat, arbeiten zu prekären Bedingungen und haben kaum Aufstiegschancen. Zu den Erwerbstätigen mit Einkommen unter 6’000 Franken gehören 87 Prozent der Beschäftigten im Detailhandel und gar 95 Prozent der Beschäftigten im Gastgewerbe. Die AutorInnen belegen, dass Löhne bis 6’000 Franken nicht als Mittelschichtslöhne zu bezeichnen sind. Mit diesem Einkommen lässt sich kein Vermögen bilden. Menschen, die 6’000 Franken oder wie in vielen Dienstleistungsberufen noch weniger verdienen, finden sich im Falle von Arbeitslosigkeit oder Invalidität schnell in ganz prekären Verhältnissen wieder.
Die meisten Dienstleistenden stehen sozial der Arbeiterschaft viel näher als der Mittelschicht. Das Wachstum der Beschäftigten im Dienstleistungssektor ist also keineswegs mit sozialem Aufstieg oder gar der Überwindung des "Büezer"-Status gleichzustellen. Vielmehr ist es auch auf die steigende Erwerbstätigkeit der Frauen, beziehungsweise ihren steigenden Anteil an der bezahlten Arbeit seit dem Ende der 1960er Jahre, zurückzuführen: 2009 waren fast 2 Millionen Frauen erwerbstätig, 1,7 Millionen von ihnen im Dienstleistungssektor, wo sie die Mehrheit der Erwerbstätigen ausmachen. So hat das Gastgewerbe einen Frauenanteil von 62 Prozent, das Gesundheits- und Sozialwesen gar von 77 Prozent. Wenn man die einzelnen Branchen detaillierter anschaut, zeigt sich eine noch extremere Arbeitsteilung nach Geschlecht. In der Hauswirtschaft oder bei der Körperpflege beträgt der Frauenanteil über 90 Prozent, bei Sicherheit und Informatik kommt er nicht über 10 Prozent hinaus. Dagegen wird unbezahlte Arbeit zu 65 Prozent von Frauen verrichtet. Das "Beschäftigungswunder" in der Schweiz konnte nur durch den Beizug neuer Arbeitskräfte bewerkstelligt werden. Diese fand man nicht nur bei den einheimischen Schweizer Frauen, sondern auch bei den AusländerInnen. Im Dienstleistungsbereich haben vor allem das Gastgewerbe mit 42 Prozent sowie Dienstleistungen für Unternehmen mit 30 Prozent sehr hohe Ausländeranteile. Nach wie vor sind es die besonders anstrengenden Arbeitsgebiete wie der Bau und der Dienstleistungssektor mit prekären Branchen wie Reinigung oder Hausarbeit, die grosse Ausländeranteile haben. Überdurchschnittlich viele Frauen und ArbeitsmigrantInnen gehören zu der Gruppe der Erwerbstätigen mit unteren Löhnen (unter 6’000 Franken). Und da es vor allem Frauen sind, die Teilzeit arbeiten, verdienen noch viel mehr von ihnen real unter 6’000 Franken. Ein Grossteil der Dienstleistungsangestellten hat also nicht höhere, sondern gleiche oder tiefere Löhne als die Beschäftigten in Industrie und Gewerbe und zudem weder bessere Arbeitsbedingungen, noch Aufstiegschancen. Arbeitsbedingungen und -sicherheit wurden über die letzten Jahre gerade im Dienstleistungssektor von zunehmender Prekarisierung geprägt – Stichworte dazu: Temporärjobs, flexible und befristete Arbeitsverhältnisse, Arbeit auf Abruf, Abbau der Sozialleistungen.
Es ist das Verdienst des Buches, die "verkannte Arbeit" der Dienstleistenden ins Licht zu rücken: Es sind die vielen "stillen Schaffer", die oft zu niedrigen Löhnen und prekären Bedingungen letztlich die Wirtschaft am Laufen halten: Verkäuferinnen, Chauffeure, Pflegerinnen oder Kellnerinnen und Kellner. Ohne sie kämen die Arbeiter nicht in die Fabriken und die Waren nicht an die KonsumentInnen. Ohne sie gäbe es in den Gaststätten kein Essen und Kranke würden nicht versorgt. Ohne sie würde die Schweiz nicht funktionieren. Im Buch kommen auch Dienstleistende selbst zu Wort und bringen zum Ausdruck, wie wenig Wertschätzung ihre Arbeit oft erfährt. Auch die Gewerkschaften haben die Bedeutung und Stellung der Erwerbstätigen im Dienstleistungssektor lange verkannt. Erst vor gut einem Jahrzehnt begannen sie mit dem Aufbau der gewerkschaftlichen Organisation im tertiären Sektor. Mittlerweile organisiert die grösste Schweizer Gewerkschaft, die Unia, 50’000 Beschäftigte aus dem Dienstleistungsbereich. Noch ist der Organisationsgrad in den Dienstleistungsbranchen relativ niedrig, im Gastgewerbe etwa liegt er nur bei ca. 15 Prozent. Doch gerade im Gastgewerbe hat die Einführung eines Gesamtarbeitsvertrags mit Mindestlohn zu einer deutlichen Verbesserung der Situation der Beschäftigten geführt. So macht das Buch nicht nur verschleierte soziale Verhältnisse sichtbar, es liefert auch einen wichtigen Beitrag zur laufenden politischen Diskussion über anständige Mindestlöhne.
Andreas Rieger, Pascal Pfister, Vania Alleva: Verkannte Arbeit. Dienstleistungsangestellte in der Schweiz. Rotpunktverlag, Zürich 2012, 180 Seiten, CHF 28.-, Euro 22.-, ISBN 978-3-85869-508-6