Antonio Dal Masetto: Als wäre alles erst gestern gewesen
Basel, 06.09.2009, akte/ Mit seinen Krimis, die subtil in den Alltag und die Abgründe des heutigen Argentinien Einblick geben, gewann Antonio Dal Masetto ein treues Fanpublikum. In seinem zuletzt im Rotpunktverlag erschienen Roman schlägt der in Intra am Lago Maggiore geborene und nach Argentinien ausgewanderte Schriftsteller andere, leisere Töne an. Doch auch damit vermag er zu fesseln.
"Als wäre alles erst gestern gewesen" ist die Geschichte der achtzigjährigen Agata, die auf ihr Leben in der Heimat am norditalienischen Ufer des Lago Maggiore zurückblickt, auf die Zeit, bevor sie mit ihrer Familie in die "Neue Welt", nach Argentinien, aufbrach. Agata wird 1911 geboren und wächst in Tarni auf – in einem Haus ohne fliessend Wasser, dafür mit einem grossen Walnussbaum im Garten, "hinter der Textilfabrik und den ersten Wiesen, wo es zu den Bergen hinaufging, über die man in die Schweiz oder nach Frankreich gehen oder fliehen konnte". Eine Kindheit in ärmlichen Verhältnissen. Der Vater ist Fabrikarbeiter, die Mutter ist krank und bettlägerig, wird ohne Erfolg behandelt und kann sich schliesslich nur noch von milchgetränktem Zwieback ernähren. Nach dem frühen Tod der Mutter wird Agata zeitweilig in einem Waisenhaus untergebracht, führt dann aber mit Hilfe ihrer Grossmutter und unterstützt von Nachbarinnen den Haushalt für ihren Vater und den zwei Jahre älteren Bruder, bis der Vater eine neue Frau ins Haus bringt: Elsa sorgt für neues Leben, einen Freundeskreis, Essen im Gasthaus, sonntägliche Ausflüge. Neben der Arbeit im Haushalt näht sie für wohlhabende Familien. Sie wird Agata bald zur guten Freundin. Mit dreizehn Jahren beginnt Agata in den Fabriken von Tarni zu arbeiten – ein unvermeidlicher Schritt auf dem Weg ins Erwachsenenleben, für sie aber auch eine Form von Unabhängigkeit. Endlich kann sie Geld verdienen und zum Lebensunterhalt der Familie beitragen. Mit Elsa, ihren Freundinnen und Cousinen geht sie samstags oder sonntags ins Gasthaus, wo immer jemand mit dem Akkordeon aufspielt und die Mädchen tanzen lernen. Agata ist noch keine 20 Jahre alt, als auch ihr Vater an einer verschleppten Lungenkrankheit stirbt. Kurz darauf erkrankt Elsa an Brustkrebs. Agata muss nicht nur diesen erneuten Verlust eines engen Angehörigen verkraften, sondern sich auch gegen Elsas Bruder wehren, der ihr mit einem listigen Trick und luschen Anwälten das Elternhaus wegnehmen will. Sie schafft es und nimmt Untermieter auf. Darunter Mario, den sie lieben lernt und später heiratet.
Agatas Geschichte widerspiegelt die prekäre Existenz in Norditalien, nahe der Schweizer Grenze, zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Sie spielt vor dem Hintergrund des aufkommenden Faschismus. Politische Agitation, Bespitzelung, Verfolgung, Flucht und Ermordungen bedrücken den Alltag in Tarni zusehends. Die Bedrohungen und Entbehrungen während des Zweiten Weltkriegs festigen Agatas und Marios Wunsch, in die "Neue Welt", nach Argentinien auszuwandern. Dal Masetto schafft es, im Rückblick von Agata ein Stück Zeitgeschichte aus einer bisher kaum bekannten Perspektive aufleben zu lassen. Zugleich berührt er mit seiner schnörkellosen Erzählung der Geschichte einer jungen Frau, die seine Mutter sein könnte.
Antonio Dal Masetto: Als wäre alles erst gestern gewesen
Rotpunktverlag Zürich 2008, 255 Seiten, CHF 34.—, Euro 21,50, ISBN 978-3-85869-375-4, www.rotpunktverlag.ch