Basel, 17.06.2010, akte/ Zwei Tage nach ihrem achtzigsten Geburtstag fasst Agata den Entschluss, ihre alte Heimat nochmals aufzusuchen: das Dorf Tarni am Lago Maggiore, von wo sie vor vierzig Jahren mit ihren beiden kleinen Kindern und dem gesamten Hausrat aufbrach, ihrem Mann folgend, der bereits in die Neue Welt vorausgereist war.
"Bei jedem Schritt drehte ich mich um, um zu unserem Haus hinaufzublicken, bis es verschwunden war und man nur noch die Krone des Walnussbaums sah, bis auch sie schliesslich verschwand. Dann gab es einen Bus, einen Zug, noch einen Zug, den Hafen von Genua, ein Schiff und Südamerika." Mit diesen Worten schliesst der argentinische Autor Antonio Dal Masetto seinen Roman "Als wäre alles erst gestern gewesen", in welchem er die betagte, mittlerweile in Argentinien verwurzelte Agata ihre Jugend und ersten vierzig Lebensjahre in Tarni aufleben lässt. Es könnte die Geschichte seiner Mutter sein – Dal Masetto ist 1938 in Intra am Lago Maggiore geboren, 1950 wanderten seine Eltern mit ihm nach Argentinien aus. In Agatas Rückschau ist Tarni keine heile Welt: Ein karges Leben, geprägt von Krankheit und frühem Tod, Fabrikarbeit ab 13 Jahren, dem aufkommenden Faschismus und dem Krieg zwischen deutschen Besatzern und Partisanen. Und doch bleibt Agata die Sehnsucht, das Haus und den Walnussbaum wiederzusehen, den Bogen aus der Neuen Welt zu den – vielleicht trügerischen – Erinnerungen zu schlagen. In seinem Folgeroman "Als wärs ein fremdes Land" begleitet Dal Masetto Agata auf ihrem Besuch in der alten Heimat. Die Reise gestaltet sich schwierig. Bereits am Flughafen in Rom werden Agata Geld, Reisepass und Rückflugticket gestohlen. Bei ihren Verwandten ist Agata nicht willkommen. Ihr früheres Haus ist heruntergekommen, der Garten zugebaut und der Walnussbaum abgeholzt. In Agatas Erlebnissen spiegelt sich der kritische Blick Dal Masettos auf das moderne Italien: Diebstal, Betrügereien, Armut, Gewalt, Überfälle von Skins und Rechtsextremen, Strassenhändler aus Afrika, überfüllte Flüchtlingsboote, die an den Häfen zurückgewiesen werden. Schritt für Schritt versucht Agata, sich in dieser Welt, die einmal ihre war, wieder zu orientieren. Dabei wird Silvana, die Enkelin ihrer alten Jugendfreundin Clara, ihr eine treue Begleiterin und Freundin. Sie führt Agata einfühlsam zu den Orten ihrer Erinnerung und lässt sie die Umwelt neu entdecken. So kann sich Agata an das annähern, was sie zu finden hoffte: "Dass nach und nach Harmonie zwischen ihr und der Welt, die sie umgab, einkehrte."
Mit Agatas Geschichte, einfach und spannend erzählt, greift Dal Masetto weit über ein Einzelschicksal hinaus die Kernfragen der Migration auf: Heimat, Verwurzelung, Erinnerung, Vergangenheit, Rückkehr und Gegenwart. Kein Wunder, gilt Dal Masettos "Als wärs ein fremdes Land" in dem von Einwanderung geprägten Argentinien als ein Schlüsselwerk zum Thema Migration; der Roman wurde mit dem renommierten Literaturpreis Planeta Biblioteca del Sur ausgezeichnet. Zugleich gibt Dal Masetto einen neuen, ungewohnten Einblick ins historische und gegenwärtige Dorfleben am norditalienischen Lago Maggiore. Seine beiden Romane "Als wäre alles erst gestern gewesen" und "Als wärs ein fremdes Land" sind gleichsam eine schöne Einladung, auf Agatas Spuren den Lago Maggiore neu zu entdecken.
Lesen Sie auch die Besprechung zu"Als wär alles erst gestern gewesen" Antonio Dal Masetto: Als wärs ein fremdes Land, Rotpunktverlag 2009, 293 Seiten, CHF 34,-, Euro 21,50, ISBN 978-3-85869-414-0