Leseperle von Andreas Simmen, dem solidarischen Verleger, Rotpunktverlag

Antonio Dal Masetto (Jahrgang 1938) ist einer der besten zeitgenössischen Erzähler aus dem an guten Erzählern reichen Argentinien. Bis zu seinem zwölften Lebensjahr lebte seine Familie am Lago Maggiore, in der Nähe von Verbania; sie emigrierte 1950 nach Argentinien. Die Welt der Migration, insbesondere der italienischen Immmigration in Argentinien hat Dal Masetto in zwei Büchern sehr eindrücklich und sehr schön dargestellt. Auf Deutsch greifbar sind aber derzeit zwei Romane, die man zwar einzeln lesen kann, die aber in einem inneren Zusammenhang zueinander stehen. Beide handeln in einem argentinischen Provinznest namens Bosque (Wald).
Im ersten, „Noch eine Nacht“, kommen eines Tages vier Männer in den Ort mit dem Ziel, die dortige Bank auszurauben. Im Dorf herrscht eine seltsame Stimmung. Alles scheint perfekt, geordnet, freundlich. Doch irgendetwas stimmt nicht. Der Bankraub gelingt – doch dann schnappt die Falle zu: Alle Ausgänge aus dem Ort sind verbarrikadiert. Das Dorf erwacht aus seiner Lethargie, Jagdfieber erfasst einen Großteil seiner Bewohnerinnen und Bewohner. Wir begleiten abwechselnd die vier Bankräuber auf ihren individuellen Fluchtwegen, fiebern mit ihnen, beobachten sie in absurden und auch sehr komischen Situationen und erleben auf diese Weise das Dorf und seine Bevölkerung.
In dem zweiten Roman, „Blut und Spiele“, ist es ein Einzelgänger, der eines Tages in dem Ort auftaucht. Er gibt vor, einen Dokumentarfilm über den Bankraub drehen zu wollen, der hier vor einiger Zeit stattgefunden hat. Zu diesem Zweck stellt er Nachforschungen an, befragt die Leute, sucht sich ein Bild zu machen. Und wieder lernen wir den Ort und seine Bewohnerinnen und Bewohner kennen, doch jetzt ganz anders. Während die Räuber sich vor den Leuten verstecken mussten, geht der Protagonist des zweiten Buches auf sie zu und versucht, hinter ihre Geheimnisse zu kommen. Es geschieht Ungeheurliches, das Stoff für einen ganz anderen Film abgäbe.
Das Gerüst der beiden Bücher ist rasch umschrieben, weniger leicht ist es, die Spannung zu beschreiben, die der Autor zu erzeugen vermag, seine Kunst der Auslassungen, der Wechsel des Erzähltempos, die skurrilen Figuren, die er kreiiert und wieder verschwinden lässt und nicht zuletzt die Bedrücktheit, die er im Lesenden zu erzeugen vermag, die Abgründe, die sich hinter der freundlichen Fassade auftun, die Angst vor allem Fremden, die Heuchelei, die ständig lauernde Gewalt.
Wer lesend dieses argentinische Provinznest Bosque besucht, wird glauben, es real zu kennen – und wird es nie wieder vergessen!
Antonio Dal Masetto, Noch eine Nacht, Rotpunktverlag, Zürich 2006, 280 S., Fr. 34.–Antonio Dal Masetto, Blut und Spiele, Rotpunktverlag, Zürich 2006, 240 S., Fr. 34.–.