Laut Definition von HABITAT, dem Programm der Vereinten Nationen für menschliche Siedlungen, sind Slums Siedlungen, in denen mehr als die Hälfte der EinwohnerInnen in unzumutbaren Unterkünften ohne grundlegende Versorgungseinrichtungen leben – ohne schützende Strukturen, ausreichenden Wohnraum, Zugang zu sauberem Wasser und sanitären Einrichtungen und ohne Sicherheit vor Vertreibung. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Lebensumstände in allen informellen Siedlungen gleichermassen prekär sind und alle BewohnerInnen eines bestimmten Slums den gleich niedrigen Lebensstandard haben.
Slumtouren werden als authentische Art, ein Land zu erleben, angepriesen. Den Reisenden wird versprochen, sie kämen in Kontakt mit der realen örtlichen Bevölkerung und Kultur. Schätzungsweise 40’000 TouristInnen pro Jahr besuchen die Favelas von Rio de Janeiro und gar 300’000 unternehmen Ausflüge in die Townships von Kapstadt. Auch in Ländern wie Indien, Kenia und Mexiko verkaufen sich Exkursionen zu den Armen gut.

Eine umstrittene Form des Tourismus

Obwohl sich Touren in Elendsviertel wachsender Beliebtheit erfreuen, gibt es auch viele kritische Stimmen. BefürworterInnen betonen, diese Art des Reisens verändere die öffentliche Wahrnehmung von informellen Siedlungen und ihren EinwohnerInnen und trage zur Armutsbekämpfung in solchen Gegenden bei. Zudem würden die BesucherInnen ein besseres Verständnis der Welt erlangen und mehr Mitgefühl entwickeln.
GegnerInnen sehen in dieser Form des Tourismus vor allem eine Ausbeutung von Armen und bestreiten, dass er zu einer tieferen Einsicht in die komplexen Probleme informeller Siedlungen beiträgt. Aus ihrer Sicht werden solche Ausflüge in erster Linie aus voyeuristischen Motiven gebucht und verletzen das Recht auf Würde und Privatsphäre der BewohnerInnen, die selten am Gewinn aus solchen Aktivitäten beteiligt werden.
Die Realität ist jedoch vielschichtiger: Gemeindebasierte Angebote können tatsächlich zum Abbau von Vorurteilen beitragen und einen nachhaltigen Nutzen für die beteiligten Gemeinschaften schaffen. Da jedoch alle Anbieter behaupten, die von ihnen organisierten Ausflüge brächten den besuchten Gegenden einen Nutzen, können die Reisenden kaum abschätzen, ob die betroffenen Gemeinden damit einverstanden sind und etwas davon haben. Die Frage ist: Können solche Slumbesichtigungen auf ethisch vertretbare Weise durchgeführt werden und einen Beitrag zur Armutsbekämpfung leisten?

Zum Beispiel Rocinha

Die britische tourismuskritische Nichtregierungsorganisation Tourism Concern wollte von EinwohnerInnen der Favela da Rocinha in Rio de Janeiro, der grössten und von den meisten TouristInnen besuchten informellen Siedlung Brasiliens, wissen, wie diese Art des Tourismus sie und ihre Gemeinschaften betrifft. Gemäss der offiziellen Statistik zählt Rocinha 69’356 BewohnerInnen; führende Mitglieder der Gemeinschaft gehen von einer Einwohnerzahl von mindestens 200’000 aus.
In Brasilien stehen Favelas im Ruf, Brutstätten der Gewalt und des Drogenhandels zu sein. Doch weiss man auch um ihre vielfältigen kulturellen Aktivitäten. Die grosse Zahl der BrasilianerInnen würde nie eine Favela betreten und sähe es am liebsten, wenn die BesucherInnen ihres Landes nichts von deren Existenz mitbekämen. Einige findige Unternehmer haben jedoch erkannt, dass sich die Mischung aus Armut, Drogen und kulturellem Reichtum touristisch gut vermarkten lässt.
Zurzeit bieten mindestens sieben offizielle Veranstalter Ausflüge nach Rocinha an. Nur eines dieser Unternehmen befindet sich im Besitz eines Bewohners der Siedlung. Eine Tour nach Rocinha ist mittlerweile ein Muss für Besucherinnen von Rio geworden, die nach authentischen Reiseerlebnissen suchen. Schätzungen zufolge besuchen monatlich 3’500 TouristInnen Rocinha und bezahlen etwa 35 Franken für eine Tour, die im Durchschnitt drei Stunden dauert.
Rocinha vermittelt zahlungskräftigen BesucherInnen einen Einblick in das Leben in einer Favela und führt ihnen die soziale Ungleichheit Brasiliens eindrücklich vor Augen. Vom Hügel, auf dem Rocinha entstanden ist, bietet sich ein unbeschreiblicher Ausblick auf Rio de Janeiro und zwei ihrer exklusivsten Wohngegenden, Gavea und Sao Conrado, mit ihren Traumvillen.

Stimmen aus der Favela

Tourism Concern interviewte 25 EinwohnerInnen von Rocinha über mögliche Chancen und Risiken des Tourismus in ihrer Gemeinschaft und über ihre Wahrnehmung der BesucherInnen. Auf die Frage, welchen Nutzen ihnen der Tourismus bringe, antworteten alle: "keinen".
"Ich sehe, dass wir viele ausländische Besucher hier haben, aber für die Gemeinschaft bringen sie keinen Nutzen." (Francisco, 34, Motorrad-Taxifahrer)
Obwohl die meisten Tourismusunternehmen behaupten, die Tours kämen der Gemeinschaft zugute, weiss niemand in Rocinha von einem sozialen Projekt, das von einem Tour Operator betrieben wird. Wenn in Rocinha überhaupt jemand etwas von Touristenbesuchen hat, dann allenfalls Souvenir- und KunsthandwerkverkäuferInnen. Dennoch sind viele EinwohnerInnen nach wie vor überzeugt, dass die Tours in ihre Gegend prinzipiell viele Personen begünstigen könnten. Sie haben ursprünglich gehofft, der Tourismus bringe ihnen Projekte oder Einkommensmöglichkeiten.
"Der Tourismus könnte uns einen Nutzen bringen, wenn in soziale Projekte innerhalb der Favela investiert würde. Wenn es eine Institution gäbe …, eine Nichtregierungsorganisation, die einen Teil der Einnahmen aus dem Tourismus für soziale Vorhaben einsetzen würde. Das wäre meiner Meinung nach ein echter Nutzen …". (Peter, 42, Fischer)
"Ich denke, alle von uns sehen den Tourismus als Möglichkeit, Unterstützung für soziale Projekte, Schulen usw. zu erhalten … Der Vorteil des Tourismus ist, dass wir zeigen können, dass nicht 100 Prozent aller FavelabewohnerInnen schlechte Menschen oder Kriminelle sind …" (Motorrad-Taxifahrer, 34)
Auch wenn viele EinwohnerInnen hoffen, dass der Tourismus der Siedlung eines Tages zugute kommt, heisst das nicht, dass sie mit der Art und Weise, wie die Ausflüge durchgeführt werden, einverstanden sind. Viele der Befragten betonten, dass der Nutzen grösser wäre, wenn die Veranstalter sich mehr engagieren würden. Führungspersonen zeigten sich besorgt, dass fast der ganze Gewinn von solchen Touren zu den Unternehmen fliesst und die Gemeinschaft nichts davon hat.

Die Gemeinschaft wird nicht am Gewinn der Tourismusunternehmen beteiligt

Laut Leo, 46, dem Präsidenten des Gemeindeverbandes von Rocinha (UPMMR), reicht es den EinwohnerInnen allmählich, dass die Favela von den Tourismusunternehmen ausgebeutet wird, ohne dass etwas vom Gewinn zurückfliesst:
"… die Touristen helfen Rocinha nicht. Sie helfen nur den Unternehmern, die Rocinha ausbeuten. Tourismus ist gut für die Geschäftsinhaber, die solche Ausflüge verkaufen. Für uns ist der Gedanke unerträglich, dass unsere Gemeinschaft zugunsten von einigen Leuten, die im Luxus leben, ausgebeutet wird, während die Armen hier in prekären Verhältnissen leben. Wenn sie [die Tour Operators] sagen, dass sie den Armen helfen, sagt ihnen, sie sollen bei uns im Gemeindeverband vorbeikommen und uns erklären, wie sie uns helfen … Mir ist kein einziger Tour Operator bekannt, der in Rocinha ein soziales Projekt unterstützt … Alles, was wir hier haben, ist eine Menge von Leuten mit schlechten Absichten, die hierher kommen, um Rocinha auszubeuten, sich die Taschen mit Geld vollstopfen und abhauen." (Leo, 46, Präsident des Gemeindeverbandes UPMMR)
Sogar EinwohnerInnen, die durch den Tourismus Einnahmen erzielen, beschweren sich über die mangelnde Unterstützung seitens der Tourismusunternehmen.
"Es gibt Typen, die im Auftrag der hier tätigen Anbieter hierher kommen. Sie füllen beispielsweise zwei oder drei Fahrzeuge mit Touristen und bringen sie hierher … verdienen also Geld, aber wenn sie an unseren Kunsthandwerkständen vorbeifahren, schauen sie uns nicht einmal an. Das ist überhaupt nicht cool. Die haben ihren Gewinn bereits eingesteckt. Also kommen sie einfach hierher, zeigen denen etwas und verschwinden wieder. Die wissen, wo alle Kunsthandwerker sind; also sollten sie auch anhalten und unsere Arbeit zeigen, uns unterstützen … aber sie zeigen nur, was für sie interessant ist." (Kunsthandwerkverkäufer, 31)
Einige Anbieter behaupten, die touristischen Besuche brächten den Favelas nicht nur finanzielle Einnahmen, sondern etwas, was noch weit über den wirtschaftlichen Nutzen hinausginge: eine Imageverbesserung für die Favelas und ihre BewohnerInnen.
Doch einigen EinwohnerInnen zufolge stellen die Touristenführer Rocinha eher in ein schlechtes Licht, indem sie die Schattenseiten übertreiben und die positiven Tatsachen überhaupt nicht würdigen. Da sie nicht in der Siedlung wohnen, sei es ihnen auch egal, wie die BesucherInnen über Rocinha dächten.
"Wir wollen keine Wohltätigkeit, wir wollen Ausbildungen, wir wollen arbeiten und unseren Lebensunterhalt verdienen und unsere Geschichte so darstellen, wie sie ist." (Motorrad-Taxifahrer, 34)
Die Fallstudie in Rocinhas wurde 2011 von Evelise Freitas von Tourism Concern durchgeführt. Mittlerweile hat in Rocinhas zumindest ein Tour Operator ein soziales Projekt ins Leben gerufen, das Tourism Concern bei nächster Gelegenheit in Augenschein nehmen wird. Tourism Concern verfolgt die Situation in Rocinha weiter und unternimmt demnächst Studien in Kapstadt und Mumbai.