Atlas der Globalisierung: Weniger wird mehr
Der aktuelle Atlas der Globalisierung beginnt mit einer düsteren Prognose: Die Einsicht, dass wir unser Wohl nicht auf immer weiteres Wirtschaftswachstum gründen können, bereite sich zwar seit den Siebzigerjahren aus, doch die politischen Rahmenbedingungen würden einen kollektiven Übergang in eine Postwachstumsgesellschaft verhindern, meint Mathias Greffrath in seinem Plädoyer für die Stärkung und "Instandbesetzung" der demokratischen Institutionen: "Gegen die Hoffnung auf einen allmählichen Wandel von unten sprechen nicht nur die sich schliessenden Zeitfenster, sondern auch die historische Erfahrung, dass nicht Erkenntnisse oder die noch so progressiven Subkulturen das politische und soziale Gewebe von Gesellschaften dauerhaft verändern, sondern nur die normativen Zwänge, die Notlagen, die Katastrophen, die Kriege."
Die politischen Rahmenbedingungen zu ändern ist schwierig, weil vom Wirtschaftswachstum auch die Sozialwerke abhängen. Und weil wir in einem Grundwiderspruch leben: Einerseits kollabiert unser kapitalistisches Wirtschaftssystem, wenn keine Renditen und Zinsen erwirtschaftet werden ‑ was ein reales Wachstum bedingt ‑ andererseits ist expansive Kapitalakkumulation mit einem unentwegt wachsenden Sozialprodukt auf einem endlichen Planeten Erde nicht möglich.
Der Postwachstums-Atlas zeichnet eigentlich eher das Krankheitsbild der kapitalistischen Wachstumsgesellschaft: 65 Milliarden Landwirbeltiere werden jährlich zum Verzehr geschlachtet, wie viele Milliarden weitere Nutztiere unter unmenschlichen Bedingungen und mit einem enormen Ressourcenverbrauch gehalten. Der Konsumrausch der Reichen und Mittelschichten in Europa und den neuen Wirtschaftsmächten wie China oder Indien treibt neue Blüten. Die Produktion von Billigware, die kaum gekauft schon wieder weggeworfen wird, geht mit schlechten Arbeitsbedingungen und der Zerstörung der Erde einher. Ein neuer gewinnträchtiger Investitionsmarkt ist in Zeiten staatlicher Spardiktate die sogenannte Care Economy, wo neue Produkte für Wohlhabende angeboten werden, während alle anderen unter der Rationalisierung leiden. Rationalisiert wird mit der steten Steigerung von Produktion und Konsum auch die Zeit, was Menschen mit Job als Beschleunigung und Menschen ohne als Zwangsentschleunigung erfahren.
Wer, oder was, kann uns noch retten? Zu hoffen, dass Techniker uns vor Klimaerwärmung, Verschmutzung und Artenverlust retten, hiesse den Bock zum Gärtner zu machen, meint Elmar Altvater: "Geoingenieure sind zum holistischen Denken nicht qualifiziert. … Die Alternative zu dem einen ‹grossen Ja› all derer, die an der Produktionsweise nichts ändern wollen und Geoengineering als Rettung aus dem selbstverschuldeten Desaster propagieren, sind viele ‹kleine Jas›, sprich viele und kleine alternative Projekte." Solche werden erst im letzten Drittel des Atlas› vorgestellt und kritisch gewürdigt: sozialer Green New Deal, Energiewende, Suffizienz statt Effizienz, Verzicht auf Förderung weiterer fossiler Treibstoffe, solidarisches Wirtschaften, Subsistenz, Degrowth, Stadtgärten, ‹vivir bien›, Share Economy oder Kreislaufwirtschaft.
Der Atlas der Globalisierung ist keine Wohlfühlliteratur. Es werden uns keine einfachen Lösungen vorgegaukelt. Stattdessen leistet er wichtige Aufklärung, verortet sorgfältig, was uns im Alltag als informative Häppchen überflutet, und öffnet den Blick für Optionen, für die zu engagieren sich lohnt.
Le Monde diplomatique, L., Bauer, B., D’Aprile, D., Jainski, S., Kadritzke, N., Liebig, S., & Thorbrietz, P.: Atlas der Globalisierung. TAZ, Berlin 2015 . Mit Download, über 300 Karten und Infografiken, 176 Seiten, broschiert, CHF 23.00, EUR 16.00, ISBN 978-3-937683-57-7