Auf dem Feld des freien Marktes
Die Unternehmerin mit Brille versammelt ihre Belegschaft. "Das wird heute kein lustiges Gespräch", beginnt Sina Trinkwalder sichtlich wütend ihre Rede. Eine Angestellte hat sich krankschreiben lassen und anderswo schwarz gearbeitet. Das geht nicht, das ist unfair. Nicht nur wenn sie wütend ist, spricht Trinkwalder schnell und engagiert.
Der Unternehmer mit grauen Haarsträhnen segelt mit zwei Weggefährten über einen Schweizer See. Patrick Hohmanns Blick schweift übers Wasser. "Du musst es wollen und du musst es tun", sagt Hohmann über seine Arbeit. Aus Hohmanns Mund tönt der Satz, der auch auf einem Motivationsposter stehen könnte, mehr nachdenklich als entschlossen.
Trinkwalder und Hohmann sind zwei Protagonisten des Dokumentarfilms "Fair Traders". Der italienisch-schweizerische Regisseur Nino Jacusso nennt sie "Persönlichkeiten der freien Marktwirtschaft". So gegensätzlich ihre Temperamente wirken, es verbindet sie mehr als ihre Position in der Firmenhierarchie. Beide setzen sich für Nachhaltigkeit und faire Arbeitsbedingungen ein. Sina Trinkwalder leitet eine Textilfirma mit 150 Mitarbeitenden, Patrick Hohmann gründete vor 36 Jahren die Textilhandelsgesellschaft Remei AG, die Bio-Baumwollprojekte in Tansania und Indien koordiniert. Die dritte Protagonistin des Films, Claudia Zimmermann, gründete einen Bioladen auf dem eigenen Hof. Niemand in "Fair Traders" hält Hymnen auf den freien Markt. Wenn der Markt erwähnt wird, dann nüchtern. Er ist schlicht das Feld, in dem man wirkt.
Der Film nimmt zwei Unternehmerinnen und einen Unternehmer mit gegenteiligem Antrieb in den Fokus. Sie stellen ethische Überzeugungen nicht aus Profitwillen hinten an, sondern setzen sie ins Zentrum ihrer Arbeit. Obwohl der Film wohl nicht zufällig den Titel des allgemein bekannten "Fair Trade"-Labels trägt, wird dieses mitsamt seinen Zertifizierungsprozessen nicht explizit thematisiert. Es bleibt also dem Zuschauer überlassen, solche Verknüpfungen anzustellen. So kann der Begriff "Fair Traders" auch als Anspielung auf die Adrenalinjunkies an den Börsen verstanden werden. Trader kreieren oder verbrennen Geld mit dem Ziel der Profitmaximierung. Fairer Handel wird oft aus der Perspektive der Konsumentinnen und Konsumenten betrachtet: Deren Einkaufskorb entscheidet, ob sich fair produzierte Produkte durchsetzen. NGOs und die politische Linke argumentieren hingegen, die Politik müsse die Wirtschaft regulieren – wie das hierzulande etwa gerade im Rahmen der Konzernverantwortungsinitiative passiert. Kein Sweatshop-T-Shirt, das ein Kunde auf dem Wühltisch liegen lässt, sorgt dafür, dass sich Unternehmen zu Nachhaltigkeit und globaler sozialer Verantwortung verpflichten. Konsumenten, Wirtschaftsvertreter, Staat – wer in diesem Diskussionsdreieck selten zu Wort kommt, sind jene Unternehmer, die sich zu 100 Prozent und freiwillig ihrer sozialen Verantwortung stellen. "Wir Unternehmer sitzen eine Stufe vorher am Hebel", sagt Sina Trinkwalder im Gespräch mit Surprise. "Wenn wir nicht mehr menschenverachtend produzieren, nehmen wir den Kunden einen Teil der Verantwortung ab."
"Mit der Ungerechtigkeit nicht klargekommen"
Am Anfang stand Trinkwalders Idee: ein Textilunternehmen, das Bio-Baumwolle verarbeitet und in dem Leute arbeiten, denen der deutsche Arbeitsmarkt keine Chance mehr gab, älteren Langzeitarbeitslosen zum Beispiel. 2010 gründete Trinkwalder in Augsburg die manomama GmbH. Heute produziert diese Stofftaschen für Supermärkte und komplett in Deutschland produzierte Kleider, zum Beispiel die Baumwollhose "Moritz" für 99 Euro.
Als der Gründerin die Idee für ihr Geschäft kam, hatte sie noch nie im Leben an einer Nähmaschine gesessen – im Unternehmertum verfügte sie aber bereits über Erfahrung. Nach einem abgebrochenen Wirtschaftsstudium hatte Trinkwalder zusammen mit ihrem Mann eine Werbeagentur gegründet. Diese war erfolgreich und existiert bis heute, aber Trinkwalder erschien die Arbeit irgendwann sinnlos: "Ich bin mit der Ungerechtigkeit unserer Gesellschaft einfach nicht klargekommen. Die einen akzeptieren das, die anderen sehen weg, und die dritten krempeln die Ärmel hoch." Die Berufsbezeichnung in Trinkwalders Mailsignatur lautet "Mädchen für alles", sie hat mehrere Bücher und fast 100’000 Tweets verfasst. Beinahe täglich schreibt sie an ihre 29’000 Follower: "Guten Morgen, erstmal Kaffee".
"Wenn wir uns von der Leistungsgesellschaft verabschieden und ein Miteinander hinbekommen, wird das eine wunderbare Sache", sagt Trinkwalder – gleichzeitig scheint sie selbst wenig Ruhemomente zu haben. Das Telefoninterview mit Surprise hat Trinkwalder in die Mitte eines Arbeitstags geschoben, der um sechs Uhr begann und in einem Abendtermin mit einem deutschen Minister endete. Der Samstag davor sei ihr erster freier Tag seit Wochen gewesen. Gibt es denn Momente, in denen sie sich von ihrer Tätigkeit abgrenzen kann? "Kommen Sie mir bloss nicht mit Work-Life-Balance! Wer sowas macht wie ich, hat wenig Zeit für sich. Aber mein Leben ist so voll menschlicher Begegnung, dass ich keinen Urlaub davon brauche."
Im Film kriegt sich Trinkwalder kaum mehr ein vor Lachen, als sie entdeckt, dass eine Mitarbeiterin, wenn die Schicht zu Ende ist, den Stromstecker an ihrem Arbeitsplatz per Schloss absperrt. Im Gespräch mit Surprise freut sie sich immer noch darüber. Das Steckerschloss wirke vielleicht absurd, aber die Hannelore sei ein sparsamer Mensch. Sie habe das gemacht, um Strom zu sparen. Sie habe eigenwillig, aber im Sinne des Unternehmens gehandelt. "Bei uns hat jeder seine Kanten, niemand muss sich angleichen. Es gibt einen unternehmerischen Rahmen, aber innerhalb davon kann sich jeder frei bewegen." Natürlich gebe es Situationen, in denen Trinkwalder durchgreifen müsse. Eben zum Beispiel, wenn jemand offiziell krank ist und währenddessen schwarzarbeitet. "Gemeinschaft heisst, dass jeder auch was einbringt und sich nicht Einzelne auf Kosten der anderen nach oben ziehen." Sie erkläre dann viel, gebe mehrere Chancen. "Wenn jemand partout nicht will, trennen wir uns von ihm."
Mit dem Herz bei den Angestellten
Gesellschaftlich lehne sie den "moralinsauren Zeigefinger" ab und setze stattdessen auf Hebelwirkung. "Stellen Sie sich vor, Sie sind ein kleines Kind und vor Ihnen steht eine Süssigkeitenschüssel. Wenn ich Ihnen die Süssigkeiten verbiete, führt das zu keinem Umdenken. Wenn also jemand meint, er muss blutige Klamotten kaufen, soll er das tun." Trinkwalder macht eine Pause und setzt dann nochmals an, hebt den Zeigefinger doch noch: "Er muss dann unter Umständen die Konsequenz tragen, dass er dafür verachtet wird."
In einer Szene von "Fair Traders" wirkt Trinkwalder herablassend. Als sie im Auto sitzt, lässt sie sich über ihre eigenen Angestellten aus und sagt dann, dass manche von ihnen wegen ihrer sehr eigenen Art wohl nirgendwo sonst eine Anstellung fänden. Während derselben Autofahrt sagt sie aber auch, dass man in ihrer Position überhaupt nicht nachtragend sein dürfe. Stimmt diese Selbstbeschreibung und denkt man sie mit dem freudigen Übermut zusammen, den sie ohne Unterbruch ausstrahlt, kommt man zum Schluss: Trinkwalder ist eine echte Patronin. Mit Herz bei der Sache, mit Herz bei ihren Angestellten – aber ihr ist anders als den Firmenpatrons früherer Zeiten der Bestand des Unternehmens nicht darum wichtig, weil sie es vererben will.
"Fair Traders" hinterfragt wenig und ordnet kaum ein. Der Film gibt die Sicht der Protagonisten wieder und reiht deren Szenen kommentarlos aneinander. So wird nicht thematisiert, um wie viel schwächer der unternehmerische Hebel des Bio-Ladens von Claudia Zimmermann (der dritten Protagonistin im Film) im Vergleich mit Trinkwalders mittelständischem Unternehmen ist. Der Kontrast zu konventionellen Grossunternehmen fehlt komplett. Die Passagen über den Textilhändler Patrick Hohmann haben vor allem Memoirencharakter. Ohne die manomama GmbH und Trinkwalders raue Offenheit würde "Fair Traders" die Grenze zum Kitsch überschreiten. Aber die Eindrücke aus dem Textilunternehmen vermitteln, dass eine Wirtschaft, die den Menschen ins Zentrum stellt, nicht ohne Reibungen verläuft. Gerade wer will, dass sich die ganze Wirtschaft umbaut, muss sich mit diesen Reibungsmomenten auseinandersetzen. Die Leistung von "Fair Traders" ist also der Perspektivenwechsel: Fairer Handel geht nicht nur Politik, Konsumenten oder NGOs etwas an. Auch Unternehmen haben eine Hebelwirkung. Auch Unternehmerinnen und Unternehmer können ihr Gewissen ins Zentrum stellen.
Nino Jacusso: "Fair Traders", Schweiz 2018, mit Patrick Hohmann, Sina Trinkwalder, Claudia Zimmermann, 90 Minuten. Ab 14. Februar im Kino.
Dieser Artikel entstammt dem Surprise-Magazin Nr. 444 und erscheint mit freundlicher Genehmigung. Zu beziehen auf den Strassen der Deutschschweiz oder unter www.surprise.ngo.
Den Autor Benjamin von Wyl finden Sie auch bei Twitter: @biofrontsau