Auf dem Weg zur Transformation des Tourismus
Nach intensiven Verhandlungen wurde die Agenda im September 2015 auf dem grössten UN-Gipfeltreffen aller Zeiten von Staats- und Regierungschefs verabschiedet. Es war ein lange fälliger Schritt, um die beiden dringendsten Herausforderungen der heutigen Welt anzugehen: Nachhaltigkeit und Entwicklung. Während die "Millenniumsziele" sich vor allem auf die Symptome extremer Armut konzentrierten, geht die Agenda 2030 nun auch die strukturellen Gründe an und baut auf den Menschenrechten auf. Ihr bahnbrechender Titel "Transformation unserer Welt" lehnt die Vorstellung eines passiven "Business as usual"-Ansatzes klar ab.
Einer der Aspekte, der für diese Transformation steht, ist die Ambition, "jene mit dem grössten Nachholbedarf zuerst" zu erreichen und niemanden zurückzulassen. Alle Länder haben sich verpflichtet, die Agenda 2030 entsprechend ihren grössten Herausforderungen umzusetzen. Dazu gehört, dass reiche Länder ihren unverhältnismässig hohen und global unverträglichen Ressourcenkonsum senken und ihre Handels-, Finanz- und Entwicklungspolitik reformieren müssen, damit Entwicklungsländer nicht durch sie diskriminiert werden.
Im Tourismus verlaufen die Trennlinien nicht nur zwischen reichen und armen Ländern, sondern auch zwischen Menschen, welche sich den Luxus einer touristischen Reise erlauben können, und anderen, die nicht einmal einen Tag pro Woche frei, geschweige denn Ferien haben. Die Agenda 2030 bietet die nötige Perspektive, um diese Milliarden von Menschen in den Blick zu nehmen, die keine internationalen Reisen unternehmen, während viele vom Tourismus betroffen sind. Tourismus ist ein Wohlstandsphänomen. Daher hat die Tourismusbranche eine besondere Verantwortung, nach dem "Do no harm"-Grundsatz dafür zu sorgen, dass die Menschen, die Umwelt und unser Klima nicht zu Schaden kommen. Die Globalen Nachhaltigkeitsziele (SDGs) können als Leitplanken für die Tourismusentwicklung und -praxis dienen und dem Sektor ermöglichen, eine bessere Rolle für die Umsetzung der Agenda 2030 zu spielen.
Jenseits von Rhetorik
Während die Agenda 2030 in starken Worten von der Transformation spricht, besteht die Sorge, dass deren Umsetzung über die 17 SDGs möglicherweise zu wenig ambitioniert ist. Einige Ziele und Fortschrittsindikatoren sind vage und unangemessen. Andere – insbesondere jene, die unter dem Bann des Wachstumsparadigmas stehen – sind widersprüchlich.
Die Errungenschaft der Agenda 2030 hängt von den transformativen Handlungen zu jedem Ziel ab, sowie vom starken Willen und der Verantwortung der Politik. Die Agenda 2030 verspricht einen systematischen Überprüfungsprozess, "um die Rechenschaft gegenüber unseren BürgerInnen zu stärken", der auf nationaler Ebene stattfinden soll, aber schwach ist hinsichtlich Rechenschaft, Transparenz und Partizipation (Donlad, 2016).
Anders als die Millenniumsziele, denen ein genügend robustes Rechenschaftssystem fehlte, muss ein Rahmen der Agenda 2030 zur wirksamen Nachverfolgung und Überprüfung sicherstellen, dass die Rechenschaft gegenüber allen Menschen abgelegt wird, einschliesslich den Kindern und Randgruppen, denen oft die Möglichkeit zur Partizipation im formellen Rahmen der Rechenschaftslegung fehlt. Regelmässiger Austausch und Treffen mit Menschen jeglichen Alters und Hintergrunds sollten auf allen Ebenen stattfinden (Save the Children, n.d.). Regierungen sollten sich aktiv mit der Zivilbevölkerung beraten und einen konstruktiven Dialog fördern. Wie der UN Generalsekretär im Synthesebericht 2014 hervorhob, braucht es ein "neues Paradigma der Rechenschaft", um eine bevölkerungszentrierte, planetsensitive Entwicklung (ebenda) voranzubringen. Im Bereich des Tourismus gibt es hier einen grossen Nachholbedarf, wird doch die Bevölkerung bei politischen Entscheidungsprozessen zum Tourismus kaum beteiligt, während sie für dessen Folgen hochanfällig ist.
Angesichts der bedeutenden Rolle der Privatwirtschaft bei Reisen und Tourismus ist die Stärkung der UN Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte und deren Einbezug bei der Umsetzung der SDGs eine wichtige Chance, um sicherzustellen, dass Beides bei der Messung der Wirkung des Privatsektors und der Rechenschaft im Entwicklungsgebiet zentral berücksichtigt wird (Gneitling, n.d.).
Zwei Schritte vorwärts, ein halber zurück
Während über 40 Jahren haben sich NGOs weltweit darum bemüht, die Stimmen der benachteiligten und marginalisierten Bevölkerung im globalisierten Tourismus hörbar zu machen. Ob 1999, als der Tourismus auf der Tagesordnung der 7. Session der UN Kommission für Nachhaltige Entwicklung (UN-CSD) in New York war, oder bei der Formulierung der globalen Nachhaltigkeitsziele und der Agenda 2030: Die NGOs haben brennende Themen und Herausforderungen aufs Tapet gebracht.
Doch die Fortschritte in Nischen wiederspiegeln nicht den Hauptharst an internationalen Tourismusangeboten oder die Trends betreffend Ressourcenverbrauch im Tourismus. Die Hotels mögen die Gäste wohl bitten, das Wasser sparsam zu verwenden und ihre Frottiertücher zweimal zu nutzen, aber die echte Bedrohung für die nachhaltige Entwicklung, wie sie in der Agenda 2030 beschrieben wird, ist nicht der Urlauber allein. Die wesentlichen Anliegen beziehen sich auf die Art und Weise, wie der Tourismus über den Lebenszyklus einer Destination entwickelt wird.
Es überrascht kaum, dass viele Anliegen, welche die NGOs aufs Tapet gebracht haben, nur zum Teil angegangen worden sind. Doch während die meisten Herausforderungen geblieben sind, haben sich die Bedingungen verändert, unter denen der Tourismus stattfindet. Das Internet und andere Informationstechnologien haben die Art, wie der Tourismus organisiert ist, grundlegend verändert. Änderungen in der Finanzierung, den Besitzverhältnissen und den Konzernstrukturen in Verbindung mit Auslagerungen im grossen Stil haben es Entscheidungsträgern leichter gemacht, ihre Verantwortung zu verdecken. Globale Entwicklungen haben die Kapital- und die Touristenströme verändert.
Schrumpfender Raum für die Zivilbevölkerung
Die Organisationen der Zivilgesellschaft stehen riesigen Herausforderungen und Veränderungen gegenüber. In der internationalen Regierungsführung ist die unabhängige Zivilgesellschaft praktisch nicht existent. Während Regierungen und Tourismusunternehmen ihre globalen Zirkel pflegen, sei es die UN Welttourismusorganisation (UNWTO) oder der World Travel and Tourism Council (WTTC), fällt es Organisationen der Zivilgesellschaft und NGOs schwer, Zugang zu finden, um ihre Positionen einzubringen. Anders als in anderen Organisationen der Vereinten Nationen gibt es in der UNWTO keine angemessenen Beteiligungsmechanismen. Zudem nehmen die Möglichkeiten der Einwirkung durch lokale Organisationen in vielen sich entwickelnden Tourismusdestinationen ab.
Tourismus und Gemeindemitwirkung
Die Partizipation lokaler Gemeinden ist wesentlich für den Schutz ihrer Interessen und für eine verbesserte Transparenz und Rechenschaft in der Tourismusentwicklung. Aber in der Praxis ist das immer noch ein abstraktes Konzept. Strategieentwicklungen, Planung und Entscheidungsfindung geschehen zentralistisch und top-down. In der Regel dominieren die Unternehmen durch ihre Lobbyingstrukturen. Auf unterster Ebene ist die Rolle der lokalen Gemeinschaften und wie sie ihre Meinungen in den ganzen Planung- und Entwicklungsprozess einfliessen noch wenig klar, und ebenso wenig die Schlüsselrolle der Lokalregierungen bei der Umsetzung der SDGs. In den meisten Fällen ist die Beteiligung der lokalen Gemeinde immer noch "freiwillig". Um hier voranzukommen, braucht es einen auf Rechten basierten Ansatz. Das Recht der lokalen Gemeinde, bei den verschiedenen Ebenen der Entwicklung zu partizipieren muss mit legislativen Massnahmen festgeschrieben werden. Die Stärkung und der Kompetenzaufbau sind wichtig, um eine effektive Teilhabe bei der Planung und Entscheidungsfindung, der Geschäftsführung, dem Management und dem Monitoring des Tourismus in den Destinationen zu gewährleisten.
Fokus auf verletzliche Gruppen
"Niemanden zurücklassen" ist die zentrale Aussage in der Agenda 2030. Diese Forderung legt einen Schwerpunkt auf alle verletzlichen Gruppen in allen SDGs. Der Schutz von Kindern, Jugendlichen, Menschen mit Behinderung, alten Menschen, Urvölkern, Flüchtlingen, Vertriebenen und MigrantInnen findet sich in vielen Entwicklungszielen und Prioritäten. Bei den Kindern gibt zweifellos starke Wechselbeziehungen zwischen deren Würde und Lebensperspektiven und der Tourismusentwicklung (ECPAT, 2016). Es ist für das Wohl und die Sicherheit der Kinder weltweit unerlässlich, dass nicht nur die SDGs 5, 8 und 16 und ihre Unterziele erreicht werden, sondern alle Ziele.
Internationales Jahr des nachhaltigen Tourismus für Entwicklung
Die internationale Gemeinschaft hat 2017 zum "Internationalen Jahr des nachhaltigen Tourismus für Entwicklung" erklärt. In diesem Zusammenhang lässt sich bereits absehen, wie ernst die Internationale Gemeinschaft und die Staaten die Agenda 2030 wirklich nehmen. Setzen sie jetzt rigorose Massnahmen um, damit der Tourismus nachhaltiger wird, oder wird ihr Business-as-usual-Ansatz den Weg zur Erreichung der Globalen Nachhaltigkeitsziele blockieren? Tourismusförderer, allen voran die UNWTO, loben mit Regelmässigkeit den Tourismus als "den" vielversprechenden Entwicklungsmotor, der zur Erreichung der Globalen Entwicklungsziele einen bedeutenden Beitrag leisten könne. Mit beeindruckenden Wirtschafts-Statistiken zum Tourismus empfehlen sie, den Tourismus über öffentliche Entwicklungsgelder und Handelsförderung zu unterstützen. Die Gleichung, dass Tourismuswachstum, wenn nur möglichst nachhaltig ausgestaltet, automatisch zu nachhaltiger Entwicklung führ und daher mit öffentlichen Geldern unterstützt werden muss, ist eine der zugrundeliegenden Prämissen dieses Internationalen Jahres des nachhaltigen Tourismus für Entwicklung 2017, welches die UNWTO als führende Agentur umsetzt.
Doch diese Behauptung wird der Realität aus vielen Gründen nicht gerecht, unter anderem weil der Widerspruch zwischen Wachstum und nachhaltiger Entwicklung als Faktor in der Gleichung fehlt. Der Flugverkehr, vom rasanten Wachstum im Tourismus beflügelt, trägt stark zur globalen Erwärmung bei. Der Boom in den Tourismusdestinationen führt zu Staus und Dichtestress und schliesslich zur Verknappung von Lebensraum und Ressourcen, während die Lebenskosten steigen. Zudem ist Tourismus, der auf internationale Gäste ausgerichtet ist, sehr anfällig auf äussere Schocks wie Terrorakte oder Naturkatastrophen.
Das Wachstumsparadigma basiert auf der Behauptung, dass die Lokalbevölkerung über ‹Spillover›- oder ‹Trickle-down›-Effekte profitiert. Dabei nicht bedacht ist, wie die marginalisierten Bevölkerungsgruppen überhaupt von ihren Beteiligungsrechten Gebrauch machen können. Heutzutage ist weithin sogar in Institutionen wie dem Internationalen Währungsfonds anerkannt dass die ‹Trickle-down›-Effekte sich in der Realität nicht zeigen, weshalb der hartnäckige ‹Glaube› daran eine hemmende Wirkung auf den Fortschritt hin zu einer nachhaltigeren Entwicklung insbesondere armer und marginalisierter Gruppen zeitigt, weil er zur wachsenden Ungleichheit beiträgt.
Nachhaltige Entwicklung statt Tourismus messen
Der Erfolg des Tourismus, auch von sogenannten ‹Entwicklungsprojekten›, wird an seiner eigenen Performance gemessen, nicht an seiner Nachhaltigkeit entlang der gesamten Wertschöpfungskette und eventuell der Wirkung auf die Lebensqualität der Lokalbevölkerung und das gesteigerte Wohlbefinden in den lokalen Gemeinden. Dies widerspiegelt sich in den tourismusbezogenen Indikatoren für die SDGs 8 und 12, die in der ‹Tier Klassifikation für Globale Nachhaltigkeitsziel-Indikatoren› vom 10. November 2016 Eingang gefunden haben.
Ziel 8.9
>> 8.9.1 Das direkte Tourismus-BSP als Anteil des gesamten BSP und als Wachstumsrate
>> 8.9.2 Die Anzahl Arbeitsstellen in der Tourismusbranche als Anteil der gesamten Stellen und als Stellen-Wachstumsrate, nach Geschlecht
Ziel 12.b
>> 12.b. 1 Anzahl nachhaltiger Strategien oder Politik-Leitlinien und durchgeführter Aktionspläne mit vereinbarten Monitoring- und Bewertungsinstrumenten.
Angesichts der überaus herausfordernden Aufgabe, den Fortschritt bei den SDGs zu messen, ist es verständlich, dass auf die bestehenden Daten und Indikatoren zurückgegriffen wird. Doch um die vielgelobte Entwicklungswirkung des Tourismus zu messen, braucht es eine breiter gefasste Reihe sozioökonomischer Indikatoren. Insbesondere die Messung des ‹direkten Tourismus-BSP als Anteil des gesamten BSP und als Wachstumsrate› ist ein Weg, der in die Irre führt. Nachhaltigkeit im Tourismus lässt sich nicht mit eingeschränkten Wirtschaftsdaten prüfen, sondern muss daran gemessen werden, wie der Tourismus zu Erreichung der SDGs beiträgt.
Gute Bewertung ist nicht nur eine Frage der Wahl geeigneter Indikatoren, aber auch des Einbezugs aller Wirkungen, der lokalen wie der globalen. Indikatoren sollten Masse sein, die auf korrekten Interpretationen beruhen. Die Förderer des internationalen Tourismus machen geltend, ihre Arbeit komme einer Milliarde TouristInnen zugute, eine Fehlinterpretation der Tatsache, dass über eine Milliarde internationaler Ankünfte gezählt werden. Dabei wird ignoriert, dass eine kleine wohlhabende Minderheit der Weltbevölkerung mehrmals pro Jahr reist, darunter Berufsreisende mit mehreren Reisen pro Monat. Schätzungen zufolge haben weniger als zehn Prozent der Weltbevölkerung je eine Landesgrenze überquert. Die Tatsache von fünf bis sechs Milliarden Inlandflügen macht den Inlandtourismus zu einem weit wichtigeren Sektor für die nachhaltige Entwicklung.
Transformation des Tourismus
Die Agenda 2030 ist mehr als die Summe ihrer 17 globalen Nachhaltigkeitsziele. Die Nennung von ’nachhaltigem Tourismus› in der Agenda ist eine Einladung, ernsthaft über die Beziehungen zwischen Tourismus und nachhaltiger Entwicklung nachzudenken. Angesichts der Bedeutung der Tourismus- und Reisebranche ist die Transformation der Welt nicht möglich ohne die Transformation des Tourismus. Die in diesem Online-Kompendium gesammelten Analysen und Erfahrungen geben Einblick in die Relevanz der SDGs für den Tourismus und die Rolle des Tourismus für die Erreichung der SDGs. Ziel ist, einen Hintergrund zu geben und zu Reflexionen, Debatten und Aktionen anzuregen, die zu einer gerechteren, gleichberechtigteren und inklusiveren Welt führen.
Die VerfasserInnen dieses Kompendiums untersuchen über alle SDGs hinweg, welches aus ihrer Sicht die grössten Herausforderungen sind, die die heute übliche Tourismuspraxis mit sich bringt. Diese Praktiken untergraben oft den Fortschritt bei der Erreichung der SDGs, statt zu ihm beizutragen. Die VerfasserInnen beschreiben auch aus aller Welt konkrete Schritte nach vorne. Es ist eine Palette von Initiativen, Ansätze, Strategien und Praktiken die wirksam beitragen können zur Transformation von Politikstrategien, Unternehmen und Konsum im Tourismus (Brot für die Welt et al, 2016).
Aus dem, was die AutorInnen aus empirischen Studien, wissenschaftlicher Forschung, Fallstudien und eigener Erfahrung zusammengetragen haben, wird offensichtlich, dass der Tourismus, wie wir ihn kennen, die Erreichung der SDGs ernsthaft gefährden könnte. Bescheidene sozioökonomische oder ökologische Anpassungen in der Produktion, oft als ’nachhaltiger› oder ‹verantwortlicher› Tourismus dargestellt, wird für die notwendige Veränderung nicht reichen. Damit der Tourismus zu einer nachhaltigen Entwicklung beiträgt, ist eine grundlegende Tourismuswende wesentlich und dringend.
Wir laden Sie ein, ob als TouristIn, TourismusunternehmerIn, als politischeR EntscheidungsträgerIn oder als BewohnerIn und einer Tourismusdestination oder gastgebenden Gemeinschaft, sich nach Möglichkeiten umzusehen, wie Sie zur Transformation des Tourismus beitragen können. Kommende Generationen werden uns nach unseren Taten beurteilen, jetzt ist die Zeit für den Wandel. Arbeiten Sie mit uns an einem gerechteren, gleichberechtigteren, inklusiveren und nachhaltigerem Tourismus und tragen Sie so bei zu einer gerechteren, gleichberechtigteren, inklusiveren und nachhaltigeren Welt bei.
Jenseits von Rhetorik
Während die Agenda 2030 in starken Worten von der Transformation spricht, besteht die Sorge, dass deren Umsetzung über die 17 SDGs möglicherweise zu wenig ambitioniert ist. Einige Ziele und Fortschrittsindikatoren sind vage und unangemessen. Andere – insbesondere jene, die unter dem Bann des Wachstumsparadigmas stehen – sind widersprüchlich.
Die Errungenschaft der Agenda 2030 hängt von den transformativen Handlungen zu jedem Ziel ab, sowie vom starken Willen und der Verantwortung der Politik. Die Agenda 2030 verspricht einen systematischen Überprüfungsprozess, "um die Rechenschaft gegenüber unseren BürgerInnen zu stärken", der auf nationaler Ebene stattfinden soll, aber schwach ist hinsichtlich Rechenschaft, Transparenz und Partizipation (Donlad, 2016).
Anders als die Millenniumsziele, denen ein genügend robustes Rechenschaftssystem fehlte, muss ein Rahmen der Agenda 2030 zur wirksamen Nachverfolgung und Überprüfung sicherstellen, dass die Rechenschaft gegenüber allen Menschen abgelegt wird, einschliesslich den Kindern und Randgruppen, denen oft die Möglichkeit zur Partizipation im formellen Rahmen der Rechenschaftslegung fehlt. Regelmässiger Austausch und Treffen mit Menschen jeglichen Alters und Hintergrunds sollten auf allen Ebenen stattfinden (Save the Children, n.d.). Regierungen sollten sich aktiv mit der Zivilbevölkerung beraten und einen konstruktiven Dialog fördern. Wie der UN Generalsekretär im Synthesebericht 2014 hervorhob, braucht es ein "neues Paradigma der Rechenschaft", um eine bevölkerungszentrierte, planetsensitive Entwicklung (ebenda) voranzubringen. Im Bereich des Tourismus gibt es hier einen grossen Nachholbedarf, wird doch die Bevölkerung bei politischen Entscheidungsprozessen zum Tourismus kaum beteiligt, während sie für dessen Folgen hochanfällig ist.
Angesichts der bedeutenden Rolle der Privatwirtschaft bei Reisen und Tourismus ist die Stärkung der UN Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte und deren Einbezug bei der Umsetzung der SDGs eine wichtige Chance, um sicherzustellen, dass Beides bei der Messung der Wirkung des Privatsektors und der Rechenschaft im Entwicklungsgebiet zentral berücksichtigt wird (Gneitling, n.d.).
Zwei Schritte vorwärts, ein halber zurück
Während über 40 Jahren haben sich NGOs weltweit darum bemüht, die Stimmen der benachteiligten und marginalisierten Bevölkerung im globalisierten Tourismus hörbar zu machen. Ob 1999, als der Tourismus auf der Tagesordnung der 7. Session der UN Kommission für Nachhaltige Entwicklung (UN-CSD) in New York war, oder bei der Formulierung der globalen Nachhaltigkeitsziele und der Agenda 2030: Die NGOs haben brennende Themen und Herausforderungen aufs Tapet gebracht.
Doch die Fortschritte in Nischen wiederspiegeln nicht den Hauptharst an internationalen Tourismusangeboten oder die Trends betreffend Ressourcenverbrauch im Tourismus. Die Hotels mögen die Gäste wohl bitten, das Wasser sparsam zu verwenden und ihre Frottiertücher zweimal zu nutzen, aber die echte Bedrohung für die nachhaltige Entwicklung, wie sie in der Agenda 2030 beschrieben wird, ist nicht der Urlauber allein. Die wesentlichen Anliegen beziehen sich auf die Art und Weise, wie der Tourismus über den Lebenszyklus einer Destination entwickelt wird.
Es überrascht kaum, dass viele Anliegen, welche die NGOs aufs Tapet gebracht haben, nur zum Teil angegangen worden sind. Doch während die meisten Herausforderungen geblieben sind, haben sich die Bedingungen verändert, unter denen der Tourismus stattfindet. Das Internet und andere Informationstechnologien haben die Art, wie der Tourismus organisiert ist, grundlegend verändert. Änderungen in der Finanzierung, den Besitzverhältnissen und den Konzernstrukturen in Verbindung mit Auslagerungen im grossen Stil haben es Entscheidungsträgern leichter gemacht, ihre Verantwortung zu verdecken. Globale Entwicklungen haben die Kapital- und die Touristenströme verändert.
Schrumpfender Raum für die Zivilbevölkerung
Die Organisationen der Zivilgesellschaft stehen riesigen Herausforderungen und Veränderungen gegenüber. In der internationalen Regierungsführung ist die unabhängige Zivilgesellschaft praktisch nicht existent. Während Regierungen und Tourismusunternehmen ihre globalen Zirkel pflegen, sei es die UN Welttourismusorganisation (UNWTO) oder der World Travel and Tourism Council (WTTC), fällt es Organisationen der Zivilgesellschaft und NGOs schwer, Zugang zu finden, um ihre Positionen einzubringen. Anders als in anderen Organisationen der Vereinten Nationen gibt es in der UNWTO keine angemessenen Beteiligungsmechanismen. Zudem nehmen die Möglichkeiten der Einwirkung durch lokale Organisationen in vielen sich entwickelnden Tourismusdestinationen ab.
Tourismus und Gemeindemitwirkung
Die Partizipation lokaler Gemeinden ist wesentlich für den Schutz ihrer Interessen und für eine verbesserte Transparenz und Rechenschaft in der Tourismusentwicklung. Aber in der Praxis ist das immer noch ein abstraktes Konzept. Strategieentwicklungen, Planung und Entscheidungsfindung geschehen zentralistisch und top-down. In der Regel dominieren die Unternehmen durch ihre Lobbyingstrukturen. Auf unterster Ebene ist die Rolle der lokalen Gemeinschaften und wie sie ihre Meinungen in den ganzen Planung- und Entwicklungsprozess einfliessen noch wenig klar, und ebenso wenig die Schlüsselrolle der Lokalregierungen bei der Umsetzung der SDGs. In den meisten Fällen ist die Beteiligung der lokalen Gemeinde immer noch "freiwillig". Um hier voranzukommen, braucht es einen auf Rechten basierten Ansatz. Das Recht der lokalen Gemeinde, bei den verschiedenen Ebenen der Entwicklung zu partizipieren muss mit legislativen Massnahmen festgeschrieben werden. Die Stärkung und der Kompetenzaufbau sind wichtig, um eine effektive Teilhabe bei der Planung und Entscheidungsfindung, der Geschäftsführung, dem Management und dem Monitoring des Tourismus in den Destinationen zu gewährleisten.
Fokus auf verletzliche Gruppen
"Niemanden zurücklassen" ist die zentrale Aussage in der Agenda 2030. Diese Forderung legt einen Schwerpunkt auf alle verletzlichen Gruppen in allen SDGs. Der Schutz von Kindern, Jugendlichen, Menschen mit Behinderung, alten Menschen, Urvölkern, Flüchtlingen, Vertriebenen und MigrantInnen findet sich in vielen Entwicklungszielen und Prioritäten. Bei den Kindern gibt zweifellos starke Wechselbeziehungen zwischen deren Würde und Lebensperspektiven und der Tourismusentwicklung (ECPAT, 2016). Es ist für das Wohl und die Sicherheit der Kinder weltweit unerlässlich, dass nicht nur die SDGs 5, 8 und 16 und ihre Unterziele erreicht werden, sondern alle Ziele.
Internationales Jahr des nachhaltigen Tourismus für Entwicklung
Die internationale Gemeinschaft hat 2017 zum "Internationalen Jahr des nachhaltigen Tourismus für Entwicklung" erklärt. In diesem Zusammenhang lässt sich bereits absehen, wie ernst die Internationale Gemeinschaft und die Staaten die Agenda 2030 wirklich nehmen. Setzen sie jetzt rigorose Massnahmen um, damit der Tourismus nachhaltiger wird, oder wird ihr Business-as-usual-Ansatz den Weg zur Erreichung der Globalen Nachhaltigkeitsziele blockieren? Tourismusförderer, allen voran die UNWTO, loben mit Regelmässigkeit den Tourismus als "den" vielversprechenden Entwicklungsmotor, der zur Erreichung der Globalen Entwicklungsziele einen bedeutenden Beitrag leisten könne. Mit beeindruckenden Wirtschafts-Statistiken zum Tourismus empfehlen sie, den Tourismus über öffentliche Entwicklungsgelder und Handelsförderung zu unterstützen. Die Gleichung, dass Tourismuswachstum, wenn nur möglichst nachhaltig ausgestaltet, automatisch zu nachhaltiger Entwicklung führ und daher mit öffentlichen Geldern unterstützt werden muss, ist eine der zugrundeliegenden Prämissen dieses Internationalen Jahres des nachhaltigen Tourismus für Entwicklung 2017, welches die UNWTO als führende Agentur umsetzt.
Doch diese Behauptung wird der Realität aus vielen Gründen nicht gerecht, unter anderem weil der Widerspruch zwischen Wachstum und nachhaltiger Entwicklung als Faktor in der Gleichung fehlt. Der Flugverkehr, vom rasanten Wachstum im Tourismus beflügelt, trägt stark zur globalen Erwärmung bei. Der Boom in den Tourismusdestinationen führt zu Staus und Dichtestress und schliesslich zur Verknappung von Lebensraum und Ressourcen, während die Lebenskosten steigen. Zudem ist Tourismus, der auf internationale Gäste ausgerichtet ist, sehr anfällig auf äussere Schocks wie Terrorakte oder Naturkatastrophen.
Das Wachstumsparadigma basiert auf der Behauptung, dass die Lokalbevölkerung über ‹Spillover›- oder ‹Trickle-down›-Effekte profitiert. Dabei nicht bedacht ist, wie die marginalisierten Bevölkerungsgruppen überhaupt von ihren Beteiligungsrechten Gebrauch machen können. Heutzutage ist weithin sogar in Institutionen wie dem Internationalen Währungsfonds anerkannt dass die ‹Trickle-down›-Effekte sich in der Realität nicht zeigen, weshalb der hartnäckige ‹Glaube› daran eine hemmende Wirkung auf den Fortschritt hin zu einer nachhaltigeren Entwicklung insbesondere armer und marginalisierter Gruppen zeitigt, weil er zur wachsenden Ungleichheit beiträgt.
Nachhaltige Entwicklung statt Tourismus messen
Der Erfolg des Tourismus, auch von sogenannten ‹Entwicklungsprojekten›, wird an seiner eigenen Performance gemessen, nicht an seiner Nachhaltigkeit entlang der gesamten Wertschöpfungskette und eventuell der Wirkung auf die Lebensqualität der Lokalbevölkerung und das gesteigerte Wohlbefinden in den lokalen Gemeinden. Dies widerspiegelt sich in den tourismusbezogenen Indikatoren für die SDGs 8 und 12, die in der ‹Tier Klassifikation für Globale Nachhaltigkeitsziel-Indikatoren› vom 10. November 2016 Eingang gefunden haben.
Ziel 8.9
>> 8.9.1 Das direkte Tourismus-BSP als Anteil des gesamten BSP und als Wachstumsrate
>> 8.9.2 Die Anzahl Arbeitsstellen in der Tourismusbranche als Anteil der gesamten Stellen und als Stellen-Wachstumsrate, nach Geschlecht
Ziel 12.b
>> 12.b. 1 Anzahl nachhaltiger Strategien oder Politik-Leitlinien und durchgeführter Aktionspläne mit vereinbarten Monitoring- und Bewertungsinstrumenten.
Angesichts der überaus herausfordernden Aufgabe, den Fortschritt bei den SDGs zu messen, ist es verständlich, dass auf die bestehenden Daten und Indikatoren zurückgegriffen wird. Doch um die vielgelobte Entwicklungswirkung des Tourismus zu messen, braucht es eine breiter gefasste Reihe sozioökonomischer Indikatoren. Insbesondere die Messung des ‹direkten Tourismus-BSP als Anteil des gesamten BSP und als Wachstumsrate› ist ein Weg, der in die Irre führt. Nachhaltigkeit im Tourismus lässt sich nicht mit eingeschränkten Wirtschaftsdaten prüfen, sondern muss daran gemessen werden, wie der Tourismus zu Erreichung der SDGs beiträgt.
Gute Bewertung ist nicht nur eine Frage der Wahl geeigneter Indikatoren, aber auch des Einbezugs aller Wirkungen, der lokalen wie der globalen. Indikatoren sollten Masse sein, die auf korrekten Interpretationen beruhen. Die Förderer des internationalen Tourismus machen geltend, ihre Arbeit komme einer Milliarde TouristInnen zugute, eine Fehlinterpretation der Tatsache, dass über eine Milliarde internationaler Ankünfte gezählt werden. Dabei wird ignoriert, dass eine kleine wohlhabende Minderheit der Weltbevölkerung mehrmals pro Jahr reist, darunter Berufsreisende mit mehreren Reisen pro Monat. Schätzungen zufolge haben weniger als zehn Prozent der Weltbevölkerung je eine Landesgrenze überquert. Die Tatsache von fünf bis sechs Milliarden Inlandflügen macht den Inlandtourismus zu einem weit wichtigeren Sektor für die nachhaltige Entwicklung.
Transformation des Tourismus
Die Agenda 2030 ist mehr als die Summe ihrer 17 globalen Nachhaltigkeitsziele. Die Nennung von ’nachhaltigem Tourismus› in der Agenda ist eine Einladung, ernsthaft über die Beziehungen zwischen Tourismus und nachhaltiger Entwicklung nachzudenken. Angesichts der Bedeutung der Tourismus- und Reisebranche ist die Transformation der Welt nicht möglich ohne die Transformation des Tourismus. Die in diesem Online-Kompendium gesammelten Analysen und Erfahrungen geben Einblick in die Relevanz der SDGs für den Tourismus und die Rolle des Tourismus für die Erreichung der SDGs. Ziel ist, einen Hintergrund zu geben und zu Reflexionen, Debatten und Aktionen anzuregen, die zu einer gerechteren, gleichberechtigteren und inklusiveren Welt führen.
Die VerfasserInnen dieses Kompendiums untersuchen über alle SDGs hinweg, welches aus ihrer Sicht die grössten Herausforderungen sind, die die heute übliche Tourismuspraxis mit sich bringt. Diese Praktiken untergraben oft den Fortschritt bei der Erreichung der SDGs, statt zu ihm beizutragen. Die VerfasserInnen beschreiben auch aus aller Welt konkrete Schritte nach vorne. Es ist eine Palette von Initiativen, Ansätze, Strategien und Praktiken die wirksam beitragen können zur Transformation von Politikstrategien, Unternehmen und Konsum im Tourismus (Brot für die Welt et al, 2016).
Aus dem, was die AutorInnen aus empirischen Studien, wissenschaftlicher Forschung, Fallstudien und eigener Erfahrung zusammengetragen haben, wird offensichtlich, dass der Tourismus, wie wir ihn kennen, die Erreichung der SDGs ernsthaft gefährden könnte. Bescheidene sozioökonomische oder ökologische Anpassungen in der Produktion, oft als ’nachhaltiger› oder ‹verantwortlicher› Tourismus dargestellt, wird für die notwendige Veränderung nicht reichen. Damit der Tourismus zu einer nachhaltigen Entwicklung beiträgt, ist eine grundlegende Tourismuswende wesentlich und dringend.
Wir laden Sie ein, ob als TouristIn, TourismusunternehmerIn, als politischeR EntscheidungsträgerIn oder als BewohnerIn und einer Tourismusdestination oder gastgebenden Gemeinschaft, sich nach Möglichkeiten umzusehen, wie Sie zur Transformation des Tourismus beitragen können. Kommende Generationen werden uns nach unseren Taten beurteilen, jetzt ist die Zeit für den Wandel. Arbeiten Sie mit uns an einem gerechteren, gleichberechtigteren, inklusiveren und nachhaltigerem Tourismus und tragen Sie so bei zu einer gerechteren, gleichberechtigteren, inklusiveren und nachhaltigeren Welt bei.