Aurel Schmidt: Gehen
Gehts eigentlich noch? Ein ganzes Buch nur über das "Gehen" zu verfassen! Über das Natürlichste der Welt! Das mag einem beim ersten Durchblättern von Aurel Schmidts neustem Werk "Gehen" so in den Sinn kommen. Geht man aber das 306 Seiten umfassende Buch durch, entgeht man nicht einer wachsenden Faszination. Es geschieht das, was der Autor bereits im zweiten Absatz verspricht: "Wenn man erst einmal damit angefangen hat, auf das Thema einzugehen, gelangt man bald zur Feststellung, dass es möglich ist, am Beispiel des Gehens fast alles zu erklären, was sich auf dieser Welt ereignet."
Aurel Schmidt will so, zum Glück, nicht alle Ereignisse dieser Welt deuten. Es würde einem die Lust am Lesen vergehen. Der Journalist und Autor, der mit allen Verkehrsmitteln die Welt bereiste und sich dabei immer mehr zum Fussgänger zurückentwickelte, weiss sich zu beschränken. Er konzentriert sich auf spielerische Weise und dennoch mit beachtlichem Tiefgang auf das Einen-Fuss-vor-den-andern-setzen. Dabei hat er sich vieles durch den Kopf gehen lassen, hat Sesshaftigkeit und Nomadismus verglichen, hat unzählige einschlägige Aufzeichnungen und Erkenntnisse von Schriftsteller/-innen, Philosoph/-innen, Reisende und Wissenschaftler/-innen gesammelt, zitiert und analysiert. Mit dem Resultat, dass uns bei dieser Lektüre immer wieder ein neues Licht aufgeht.
Renaissance der Bewegung
So erfahren wir etwas über die Mechanik des Gehens, über das Gehirn, das die "Gehmuskeln" steuert, über das Gehen als Quelle von Inspiration und Kreativität, über das Flüchten, das meditative oder wettkampfmässige Gehen, über den Gang, der den Charakter verrät und über die unzähligen Geharten, die Menschen frei wählen oder die ihnen aufgezwungen werden. Zudem gehen wir mit Aurel Schmidt auf eine historische Reise. Wir lernen, wie sich das Gehen im Laufe der Zeit verändert hat, gehen mit dem Flaneur durch Paris oder Berlin, begleiten Spaziergänger in Parks und Wanderer auf die Berge, erleben die Fussgänger in den modernen Städten, aber auch die Sitzsüchtigen und Sesselkleber, die nicht mehr ohne ihre fahrende Krücke, das Auto, auskommen. Überdies werden wir Zeugen einer Renaissance der Bewegung und eines neuen Gesundheitsbewusstseins, wir "fitten" geistig mit Joggern und Nordic Walkern und machen uns schliesslich auf den Weg in den Cyberspace.
Zwei Beine genügen
Wie der in Basel lebende Autor – er geht jeden Tag meilenweit – konkret sein eigenes Gehen im Laufe seines gut 70-jährigen Lebens erlebte, das entgeht uns leider. Den Platz dafür hat er elf berühmten Gehern der letzten Jahrhunderte überlassen, die das eigene Gehen in jeder Beziehung weitergebracht hat. Zum Beispiel Jean-Jacques Rousseau, Charles Dickens, Henry David Thoreau, John Muir oder Robert Walser. Dass das Gehen auch den Verfasser von "Gehen" beflügelt, verrät dessen Untertitel: "Der glücklichste Mensch auf Erden". Oder Sätze wie diese: "Gehen ist ein Grundbedürfnis, eine Grundvoraussetzung des menschlichen Lebens und Denkens. Ohne Gehen geht nichts. Wer geht, macht Fortschritte, kommt voran, macht mehr Erfahrungen, versteht mehr. Wer dagegen zu viel sitzt, ermüdet schnell, hat keine Einfälle mehr und schläft zuletzt." Keine Spur von Schlaf bei dieser Lektüre, nur ein Bedauern: Irgendwie schade, dass das Buch so rasch zu Ende geht. Doch wie schreibt A.S. im Vorwort über das Glück, das so einfach zu erreichen sei wie nichts anderes auf der Welt? "Zwei Beine genügen. Keine Ausrede! Auf geht es!"
Aurel Schmidt: Gehen, Verlag Huber Frauenfeld 2007, 306 Seiten, SFr. 48.-, Euro 31.90, ISBN 978-3-7193-1446-0
*Ruedi Suter ist freier Medienschaffender, Redaktor von "Habari", der Zeitschrift der "Freunde der Serengeti Schweiz", langjähriger Mitarbeiter von OnlineReports und Autor der Bruno Manser-Biografie:Bruno Manser. Die Stimme des Waldes