Barrierefrei reisen – ein Angebot für alle
Esther Banz: Beim Reisen sind Menschen mit Behinderungen mit unzähligen Hindernissen konfrontiert. Welche sind die schlimmsten?
Helena Bigler: Das fängt schon zuhause an, wenn ich eine Reise plane und Informationen suche. Was ein Hindernis ist, hängt vom Handicap ab: Jemand im Rollstuhl kommt beispielsweise nicht auf ein Schiff, wenn es keine Rampe hat. Es gibt aber unzählige verschiedene Behinderungsformen und entsprechend viele unterschiedliche Barrieren. Im öffentlichen Verkehr lässt es sich in anderen Ländern teils fast einfacher reisen als in der Schweiz.
EB: Welche Länder eignen sich zum Reisen besonders gut?
HB: Die nordischen Länder sind viel weiter, was die Barrierefreiheit betrifft. Aber auch in vielen südlichen Ländern können sich Menschen mit Behinderungen in Tourismusregionen bewegen, was unter anderem mit dem Krieg und den Versehrten zu tun hat: In Spanien oder Italien hat etwa jede Kirche eine Rampe. Diese decken natürlich nicht alles ab, was der Tourismus braucht, um barrierefrei zu sein. Eine pauschale Länderbeurteilung kann ich nicht machen, aber soviel sagen: In ganz Europa ist viel gegangen in den letzten Jahren. So erhielten beispielsweise in Griechenland Menschen im Rollstuhl an vielen Badestränden mittels eines sogenannten „Seatrac“ Zugang zum Meer.
Ferien mit Procap ©Procap
EB: Was ist zum barrierefreien Reisen in der Schweiz zu sagen?
HB: Im grossen Ganzen sind wir dank Behindertengesetz schon weit. Gleichzeitig ist der ÖV noch nicht ansatzweise dort, wo er sein sollte. Es ist vieles im Argen, trotz Gesetzgebung und allgemein hohem Standard.
EB: Der Teufel steckt im Detail – gilt das auch bei der Barrierefreiheit?
HB: Absolut und gerade im Tourismus. Dein Hotel kann super sein und sogar das Prädikat «barrierefrei» haben, aber wenn du mit deinem Rollstuhl nicht auf deinen Zimmerbalkon gelangst, ist das einfach nur frustrierend. Oder wenn es einen behindertengerechten Swimmingpool im Aussenbereich hat, die nächstgelegene Toilette sich aber im 9. Stockwerk befindet…
EB: Procap Reisen ist spezialisiert auf Reisen, die mit den verschiedensten Handicaps machbar sind. Wie findet und gestaltet ihr diese?
HB: Wir tragen alle Informationen zu bestimmten Destinationen, Ausflugsmöglichkeiten und Verkehrsmitteln zusammen, die für Menschen mit verschiedensten Behinderungen relevant sind. Wir können die Welt nicht verändern, aber versuchen herauszufinden, welcher Ort und welches Transportmittel sich besser eignet, welches weniger. Die gesammelten Erkenntnisse teilen wir mit unseren Kundinnen und Kunden.
EB: Rekognosziert ihr alles selber?
HB: Nein, wir arbeiten mit Partnerorganisationen zusammen. Auch unsere Kundinnen und Kunden versorgen uns mit Informationen. Und wir selber, auch diejenigen von uns ohne Behinderung, halten stets Ausschau nach Barrieren, bei jeder privaten Reise.
EB: Welche Hindernisse sind am ärgerlichsten?
HB: Unachtsamkeiten bei kleinen Dingen des Alltags. Der Klassiker ist die zu weit oben fixierte Duschbrause selbst im rollstuhlgängigen Hotel: So ist es für jemanden im Rollstuhl unmöglich, sich zu duschen. Der Duschkopf sollte immer zuunterst platziert sein. Die wenigsten haben eine Vorstellung davon, was stark Sehbehinderte oder Querschnittgelähmte brauchen.
EB: Tatsächlich sind viele erstmals als Jungeltern mit Hürden konfrontiert – wenn sie mit dem Kinderwagen unterwegs sind. Aber man vergisst dann auch wieder schnell, wie das war. Welche Barrieren wären eigentlich am einfachsten zu beseitigen?
HB: Wir sind der Überzeugung, dass es sehr viele pragmatische Lösungen gäbe, gerade im Reisen. Aber die betroffenen Dienstleister müssen zuerst dafür sensibilisiert werden – inklusive der Erkenntnis, dass es nur kleine Anpassungen braucht. Eine mobile Rampe reicht oft schon. Man muss es einfach machen.
EB: Die Gesellschaft altert stark und viele Menschen gehen im Alter mithilfe von Rollatoren. Auch verfügen nicht wenige über grosse finanzielle Mittel. Die Tourismusbranche müsste also ein grosses Eigeninteresse haben, Hindernisse aus dem Weg zu räumen…
HB: Das sagen wir auch immer. Ich finde es erstaunlich, dass viele die Chance nicht sehen. Es braucht sicher noch mehr Sensibilisierung – auch vonseiten der Betroffenen: Es ist wichtig, dass Menschen mit Behinderungen und andere, die den Blick haben, immer wieder an den dafür verantwortlichen Stellen melden, wenn sie Hürden begegnen. Das ist ein Chrampf, aber es lohnt sich.
EB: Schätzen es Reisende im Rollstuhl oder mit einem anderen Handicap, wenn andere Reisende nachfragen, ob sie Unterstützung geben können?
HB: Grundsätzlich sehr, ja.
EB: In jedem Fall oder in bestimmten Situationen?
HB: In bestimmten Situationen. Nicht alle brauchen Unterstützung. Aber wer unsicher ist, fragt am besten einfach nach.
EB: Procap hat auch Reisen im Angebot, die explizit für Menschen mit Wahrnehmungsstörungen und mit psychischen Behinderungen geeignet sind. Was zeichnet diese Angebote aus?
HB: Jeder Mensch ist anders, ebenso jede dieser Behinderungen, deshalb kann ich keine allgemeingültige Antwort darauf geben. Aber wir schauen zum Beispiel, dass bei gewissen Reiseangeboten ganz klare Strukturen gegeben sind. Auch, dass das gesamte Reiseprogramm und Pausen im Voraus bekannt sind und die Betreuungspersonen mit den einzelnen Behinderungsformen Erfahrungen mitbringen.
EB: Was würde sich mit Annahme der Inklusionsinitiative beim Reisen in der Schweiz ändern?
HB: Das Recht auf tatsächliche Gleichstellung würde explizit in der Verfassung verankert. Dort würde auch festgeschrieben, dass Menschen mit Behinderungen Anspruch haben auf Unterstützungs- und Anpassungsmassnahmen, auf personelle und technische Assistenzen.
EB: Würde der Tourismus davon profitieren?
HB: Ja, sehr! Es gäbe einen starken Impuls für die barrierefreie Mobilität. Aber man muss aufpassen mit seinen Erwartungen: Der Passus der «Verhältnismässigkeit» relativiert alles ein wenig. Sicherlich würde die Initiative bei ihrer Annahme die Gesellschaft stärker für die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen sensibilisieren, und auch für die der älteren Menschen. Orte, die vom Tourismus abhängig sind, sollten motiviert sein, ihre Angebote auszubauen – aber ehrlich gesagt sollten sie das ohnehin, eben auch aus geschäftlichem Interesse. Sie alle sollten sich fragen: Haben wir schon einen barrierefreien Wanderweg? Und falls nicht: Wo wollen wir ihn haben?
EB: Für fairunterwegs ist Nachhaltigkeit das zentrale Thema. Wie ökologisch und sozial nachhaltig sind Procap-Reisen?
HB: Was das Soziale betrifft, sind wir hinsichtlich der Barrierefreiheit führend als Fachorganisation. Bei den Unterkünften kann man auch davon ausgehen, dass es sozial verantwortungsbewusste und sensibilisierte Anbieter sind, die mit uns zusammenarbeiten. Wir haben ganz neu das «Swisstainable»-Level 1 von Schweiz Tourismus erlangt – das ist das Nachhaltigkeitsprogramm im Schweizer Tourismus. Es bewertet nach sozialen und ökologischen Kriterien. Bei internationalen Reisen haben wir auch die wenig ökologischen Kreuzschifffahrten im Angebot – vor allem darum, weil diese Art des Reisens für Menschen mit Behinderungen besonders geeignet ist. Und weil sie die gleichen Rechte haben, auch bei der Reise-Wahlfreiheit. Wir würden gerne Flussfahrten etwa von Basel aus anbieten, was eine sanfte und ökologische Art des Reisens ist. So haben wir schon überlegt, ein eigenes Schiff zu kaufen … (lacht)
EB: Aber?
HB: Es ist einfach eine Vision. Wir bräuchten einen Mäzen.
Helena Bigler
Helena Bigler hat vor über 25 Jahren den Bereich Reisen & Sport bei Procap Schweiz aufgebaut und ist seither für die Organisation und Weiterentwicklung von barrierefreien Reisen verantwortlich. Sie ist regelmässig mit Menschen mit Behinderungen unterwegs und sammelt mit ihnen als Fachpersonen in eigener Sache wertvolle Erfahrungen fürs Reisen.