100 Jahre Naturfreunde Schweiz

    Ein sehr schön aufgemachtes, reich bebildertes Geschichtsbuch legt die Schweizer Historikerin Beatrice Schumacher zum 100 Jahr-Jubiläum der Naturfreunde Schweiz vor. 1905 konstituierte sich in Zürich die erste Ortsgruppe des zehn Jahre zuvor in Wien gegründeten „Touristenvereins ‚Die Naturfreunde’“ (TVN). Gleichzeitig entstand die erste Ortsgruppe Deutschlands in München, und bald darauf wurden in der Nord- und Ostschweiz sowie im Kanton Graubünden weitere Ortsgruppen aus der Taufe gehoben. Bis 1914 gab es in fast allen grösseren Schweizer Städten Naturfreundegruppen, erste auch in der Romandie. Die Naturfreunde-Bewegung widerspiegelt den historischen Prozess der aufkommenden „Freizeit“ und des neuen Umgangs mit der „Natur“. Im Motto der Naturfreunde „Berg frei“ findet sich die frühe zentrale Forderung des „Touristenvereins“ nach freiem Wegrecht und Zutritt zur Natur, von der man lernen will und wo man auf Wanderungen Körper und Geist bilden kann. Der „Touristenverein“ gründete auf den Werten der Freundschaft, Solidarität und Demokratie. Er hatte sich zur Aufgabe gemacht, all jenen Zugang zu Freizeit, Sport und Tourismus zu verschaffen, die dies um 1900 und noch weit bis ins 20. Jahrhundert hinein von allein nicht vermochten. Die Idee nahm konkret Gestalt an in den Hütten, die von den Ortsgruppen mit grossem ideellen und materiellen Einsatz errichtet wurden: Heute verfügen die Naturfreunde Schweiz über rund 100 Häuser, die von den 23’000 Mitgliedern aus den 170 Sektionen getragen werden.
    Der „Touristenverein ‚Die Naturfreunde’“ ist aus der Arbeiterbewegung heraus entstanden, Metallarbeiter, Typographen, Buchbinder und junge Studierende waren die treibenden Kräfte der Bewegung, die sich zum Sozialismus und zur Internationalität bekannte. In der Schweiz erlebten die „Naturfreunde“ ihre grossen Zeiten als sozialistische Kulturbewegung zwischen 1920 und 1950. Als 1933, nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten,die Organisationen in Deutschland zerschlagen wurden und 1934 in Österreich mit dem Dollfussregime der Austrofaschismus eingeläutet wurde, verlegten die „Naturfreunde Internationale“ ihr Zentralsekretariat nach Zürich, wo es bis 1988 blieb. Die Spaltungen in der sozialistischen Bewegung nach der russischen Revolution führten bereits in den 20er Jahren zu ersten Zerreissproben im „Touristenverein ‚Die Naturfreunde’“. Der tiefgreifende Wandel in Auffassungen und Praxis des Sozialismus nach dem Zweiten Weltkrieg prägte die Entwicklung der Organisation grundlegend: Auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges grenzten sich die „Naturfreunde Schweiz“ scharf gegen links ab. Kommunisten wie Theo Pinkus, schieden aus ihren Leitungsfunktionen aus. Pinkus leitete damals das während des zweiten Weltkrieges gegründete Ressort „Volkstourismus“, das seiner Idee entsprechend mit dem „Touristenverein“ eine eigenständige Lösung für die stetig steigenden Bedürfnisse der Arbeiter- und Angestelltenschichten nach Freizeit- und Feriengestaltung bieten sollte – statt zu warten, bis der kapitalistische Markt oder bürgerliche Organisationen sich dieser steigenden Nachfrage annahmen. Das Recht auf Ferien war vielerorts in Europa Mitte der 30er Jahre erstritten worden. Es war die Zeit des aufkommenden Sozialtourismus, von dem in der Schweiz etwa auch Gottlieb Duttweilers Gründung der Reiseorganisation Hotelplan oder die Gründung der gewerkschaftlich orientierten Schweizer Reisekasse zeugen, die Beatrice Schumacher in ihrer 2002 publizierten Dissertation „Ferien“ untersucht hat (s. akte-Kurznachrichten 3/2002).
    Man kann beim Lesen der Naturfreunde-Jubiläumsschrift durchaus auch kurz ins Träumen geraten, wie etwa Tourismus und Reiseorganisation heute aussehen würden, hätte sich der „Volkstourismus“ des „Touristenvereins“ durchgesetzt. Einzelne Sektionen agierten noch bis in die 60er Jahre als Reiseanbieter, doch die Volkstourismus-Initiative wurde in den parteipolitischen Auseinandersetzungen des „Touristenvereins“ während des Kalten Krieges aufgerieben, während die Organisation zu einem breitentauglichen Freizeitverein heranwuchs, der mit seinen Kurs- und Sportausbildungsangeboten zunehmend auch für politisch nicht interessierte Mitglieder attraktiv wurde. Die Bezeichnung „Touristenverein“ legte die „Naturfreunde Schweiz“ Ende der 80er Jahre definitiv ab und richtete sich verstärkt auf „grüne“ Anliegen des Natur- und Landschaftsschutzes aus, welche die Organisation seit vielen Jahren auch schon beschäftigt hatten. Heute setzen sich die „Naturfreunde Schweiz“ für sozial und ökologisch vertretbare Freizeit-, Tourismus- und Bergsportaktivitäten ein. Mitgliederorganisation, Kurswesen und Verwaltung der Häuser, die auf ehrenamtlicher Basis funktionierten, müssen sich laufend dem schnellen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandel anpassen.
    Ein ganz spannendes Stück Tourismusgeschichte zeichnet die Autorin Beatrice Schumacher in diesem Jubiläumsband nach, lebendig gestaltet auch durch fünf ausführliche Porträts von engagierten NaturfreundInnen. Aus Sicht des arbeitskreises tourismus & entwicklung (akte) wäre es jetzt besonders interessant, eine gleichsam fundierte, in der Zeitgeschichte verankerte Aufarbeitung der Geschichte der „Naturfreunde Internationale“ lesen zu können, wirken diese doch seit vielen Jahren in der akte-Trägerschaft mit. Gemeinsam haben wir gerade in jüngster Vergangenheit wichtige Anliegen einer ökologisch und sozial verträglich gestalteten Tourismusentwicklung erfolgreich auf dem Parkett der internationalen Tourismuspolitik ausgefochten. Dieser Aspekt der internationalen Dimension der „Naturfreunde“ und der Zusammenarbeit der „Naturfreunde Schweiz“ mit dem internationalen Verband kommt denn leider auch etwas zu kurz im Jubiläumsband.