Nordostbrasilien, 2009: Der Landarbeiter Ernaldo Souza* sucht Arbeit. Seine Parzelle ist zu klein, als dass er seine Familie mit drei Kindern durchbringen könnte. Da verspricht ihm ein Arbeitsvermittler Arbeit und guten Lohn auf einem Landgut im Südosten des Landes. Ernaldo willigt ein.
Ein paar Tage später wird er mit 70 anderen Männern in klapprigen Bussen abgeholt. Die Reise dauert zwei Tage und zwei Nächte. Erschöpft und hungrig kommen sie auf einem abgelegenen Gutsbetrieb an. Niemand weiss, wo sie sich befinden, weit und breit kein Dorf, keine Stadt. Die Männer erhalten Essen, Arbeitskleider und Werkzeuge. Dann werden sie in den Urwald geführt. Der Arbeitsleiter erklärt ihnen, dass sie den Urwald roden werden, damit Weideland entsteht. Er sagt ihnen auch, dass sie hier ihre Unterkunft bauen müssen. Es sei besser, am Arbeitsort zu übernachten, als täglich zum Gutsbetrieb zu fahren und Zeit zu verlieren. Aus Brettern, Ästen und Blättern zimmern die Männer ihre Unterkunft.
"Eure Arbeit ist nicht mehr wert!"
Anderntags geht die Arbeit los. Bulldozer und Motorsägen machen die grobe Arbeit, aber die Handarbeit mit Äxten und Schaufeln ist trotzdem noch sehr hart. Es ist heiss, und manchmal gehen tropische Regen nieder. Die Männer reklamieren, das Essen sei schlecht und ungenügend und das Wasser stinke. Der Arbeitsleiter erklärt, ihre Arbeit sei nicht mehr wert. Ausserdem hätten sie schon genug Schulden. Was für Schulden? fragen die Männer. Der Arbeitsleiter zieht ein Büchlein hervor und liest die Schulden vor: Reisekosten mit dem Bus, Arbeitskleider, Stiefel, Handschuhe, Axt, Schaufel, Bretter für den Unterstand, dazu das tägliche Essen. Alles ist zu überhöhten Preisen angerechnet. Die Männer stecken in der Schuldenfalle. Sie merken, dass sie ihre Schulden trotz harter Arbeit nie abbezahlen können, ja, es kommen ständig neue Schulden dazu, für Medikamente und für Schäden bei Unfällen.
"Wehe denen, die man erwischt!"
Die Situation ist auch wegen der fehlenden Infrastruktur unerträglich. In ihren Unterständen sind sie dem wechselhaften Wetter ausgesetzt. Das schlechte Essen vermag ihnen nicht die nötige Energie für die Arbeit zu geben. Ernaldo denkt an Flucht und bespricht seine Absicht mit ein paar Kollegen. Aber die Männer wissen nicht, wo sie sich befinden. Sie kennen niemand in der Gegend und haben kein Geld. Ausserdem drohen ihnen die Aufseher, sie würden verfolgt und zurückgeholt und wehe denen, die man erwischt… Psychischer Terror hält sie Männer fest. Manche Gutsbetreiber lassen ihre Arbeiter von bewaffneten Milizen bewachen. Fluchtversuche enden oft tödlich.
Ernaldos Glück
Nach gut einem Jahr hat Ernaldo einen Arbeitsunfall und zerquetscht sich eine Hand. Der Arbeitsleiter gibt ihm Tabletten gegen Schmerzen und Entzündung. Die Hand entzündet sich trotzdem und schwillt an. Ernaldo hält es fast nicht aus. Da bekommt es der Arbeitsleiter mit der Angst zu tun: Ein Toter könnte die gespannte Atmosphäre zusätzlich anheizen. Also lässt er den Mann laufen. Dieser schafft es 20 km zu Fuss bis zum nächsten Städtchen. Er hat Glück: Im kleinen Spital wird er gesund gepflegt, obwohl er kein Geld hat. Endlich, nach 14 Monaten, kann er seine Familie benachrichtigen, dass er noch lebt.
Sein Fall kommt auch der Kirchlichen Kommission für Landpastoral zu Ohren. Sie geht der Sache nach, macht den Gutsbetrieb ausfindig und informiert die Behörden. Schliesslich stürmt ein Polizeikommando den Gutsbetrieb, nimmt die Verantwortlichen fest und befreit die Arbeiter.
So gut und so schnell enden die Fälle von Sklaverei nicht immer, aber die Erfolge werden zahlreicher. Die Kommission für Landpastoral CPT sowie Menschenrechtsorganisationen kämpfen immer wirksamer gegen die verbreitete Zwangsarbeit. Mit Vorträgen und Radiosendungen werden die Menschen gewarnt, sich auf unsichere Versprechen einzulassen.


"Wir wurden Tag und Nacht bewacht"

Francisco Rodrigues, Landarbeiter in Piauí (Brasilien), geriet in Schuldendienst. Fünf Fragen zu seiner persönlichen Erfahrung.

Wie gerieten Sie in Sklaverei?
Ich war Knecht auf einem Pachtgut und hatte teilweise keine Arbeit. Da erhielt ich das Angebot einer gut bezahlten Stelle mit einem Monatslohn von (umgerechnet) CHF 350. Ich sagte zu. Die Reise geschah nachts und wir mussten viele Male umsteigen. Die erste Nacht mussten wir bei strömendem Regen unter freiem Himmel verbringen. Weil alles überschwemmt war, konnten wir uns nicht einmal hinlegen.

Wann haben Sie realisiert, dass Sie zum Sklaven geworden waren?
Als wir den ersten Lohn nicht erhielten. Sie sagten uns, wir hätten mehr ausgegeben, als wir verdient hätten. Wir mussten unter der glühenden Sonne, im Regen, Tag und Nacht arbeiten. Wir tranken dreckiges Wasser aus alten Pestizidflaschen und assen Fleisch von verendetem Vieh.

Warum sind Sie nicht geflohen?
Wir wurden Tag und Nacht von bewaffneten Männern bewacht, die sagten, die Wächter der umliegenden Grossgrundbesitzer hätten den Befehl uns zu töten, sollten sie uns erwischen. Zudem wussten wir nicht, wo wir waren. Der Ort war sehr isoliert und wir hatten Angst vor wilden Tieren.

Wann und wie wurden Sie befreit?
Nach ungefähr 6 Monaten kam die Bundespolizei. Kurz zuvor erhielten wir von den Wächtern CHF 145 in einem Umschlag, den wir nicht öffnen durften, und mussten ein leeres Papier unterschreiben.

Wurden Sie je entschädigt?
Ja. Aber anfangs hatten wir Angst, unsere Rechte einzufordern. Wir wussten auch nicht, an wen wir uns wenden sollten. Dann lernten wir die CPT kennen, die uns tatkräftig unterstützte. Ein Jahr später erhielten wir die uns zustehende Entschädigung.
* Name geändert


Brücke • Le pont, eine Trägerorganisation des arbeitskreises tourismus & entwicklung,  unterstützt die Arbeit der CPT. Diese besteht nicht nur in der Bekämpfung der Sklaverei, sondern vor allem darin, der Landbevölkerung zu ihrem Recht zu verhelfen: zum Recht auf Land, auf Wasser, auf Bildung und Gesundheit. Zum Programm von Brücke • Le pont in Brasilien gehören auch Berufsbildung und die Förderung von einkommensschaffenden Initiativen. Menschen aus den armen Bevölkerungsschichten lernen, rentablere Arbeiten zu verrichten, damit sie von der eigenen Arbeit würdig leben können.

Mit dem Programm "Arbeit in Würde" unterstützt Brücke • Le pont rund 35 Projekte in in Bolivien, Brasilien, Nicaragua, El Salvador, Togo und Benin und wirkt darauf hin, dass benachteiligte Menschen von der eigenen Arbeit würdig leben können. Schwerpunkte sind die Schaffung von Einkommen, die Berufsbildung und die Durchsetzung der Arbeitsrechte. Dafür arbeitet Brücke • Le pont  mit lokalen Organisationen zusammen.

Nebst der wirtschaftlichen Entwicklung fördern die Projekte auch die Gleichberechtigung von Frau und Mann sowie die Beteiligung der Menschen am sozialen und politischen Leben. Brücke • Le pont legt Wert darauf, dass in den Projekten partizipative und lokal angepasste Methoden angewendet werden und dass die Zusammenarbeit in Netzwerken gepflegt wird.
Informationen: www.bruecke.ch