Beitrag zum ABC der globalen (Un)Ordnung: Tourismus
Der Tourismus ist klar ein Wegbereiter und Schrittmacher der Globalisierung, wie wir sie heute als einzigartige Verdichtung von Raum und Zeit erleben: Im 19. Jahrhundert traten die ersten "Vergnügungsreisenden" in die Fussstapfen der Pilger, Händler, Soldaten, der bildungsbeflissenen Adeligen und Expeditionsreisenden. Mitte des 19. Jahrhunderts organisierte der Baptistenpfarrer Thomas Cook im Kampf gegen Alkoholismus erste Ausflüge für Arbeiter*innen mit der neuen Eisenbahn und legte damit den Grundstein für sein globales Unternehmen, das Reisen im gesamten Britischen Empire anbot und absolut bahnbrechend das bargeldlose Zahlungsmittel des Reiseschecks einführte. Der Hotelgründer Conrad Hilton strebte an, dass jedes Hilton ein kleines Amerika verkörpere, und expandierte mit seinen Standards im 20. Jahrhundert erfolgreich. Grosse touristische Anlagen werden inzwischen meist von Investmentfirmen finanziert und in einem komplexen Geflecht von Management-, Lizenz- und Franchiseverträgen betrieben, was die Eigentumsverhältnisse und Unternehmensverantwortung immer schwerer durchschaubar macht. Heute leiten Influencer auf Instagram Reiselustige zu den angesagten Hotspots, die dank den mächtigen digitalen Buchungsplattformen für Flüge und Unterkunft wie etwa auch Airbnb einfach und kostengünstig erreichbar sind. Technologische Revolutionen im Transportwesen, der Kommunikation, in Handel sowie Finanz- und Zahlungsverkehr und die Verflechtungen in der Wertschöpfungskette waren die Treiber des heute florierenden Tourismus.
Dass sich immer mehr Angehörige der Industrie- und der aufstrebenden Schwellenländer Ferienreisen leisten können, wird gern als die Errungenschaft der "Demokratisierung des Reisens" gefeiert. Tourismuskritische Fachleute schätzen aber, dass die 1,4 Milliarden internationalen Reisen vor allem von Mehrfachreisenden unternommen werden und weniger als zehn Prozent der Menschheit überhaupt das Privileg von Ferienreisen ins Ausland geniesst. Die Entwicklungsländer konnten zwar ihren Anteil am globalen Tourismus in den letzten Jahren erheblich steigern, doch verbuchen die Industrieländer noch immer die Mehrheit der Ankünfte und Einnahmen aus dem Tourismus. Das rasante Wachstum des Tourismus ist nicht einfach auf die steigende Nachfrage zurückzuführen, sondern ist das Resultat gezielter Förderung des Sektors: In den 80er Jahren begannen hochverschuldete Länder den Devisenbringer Tourismus im Rahmen von Strukturanpassungsmassnahmen des Internationalen Währungsfonds (IWF) zu fördern. In mehr als 80 Prozent der Entwicklungsländer zählt der Tourismus heute zu den stärksten Exportsektoren; 46 der 50 am wenigsten entwickelten Länder (LDC) hängen vom Tourismus als Haupteinnahmequelle ab. Doch der Tourismus entpuppt sich oft als Schuldenfalle, denn gerade in armen Ländern oder Inselstaaten, wo wenig für den Tourismus produziert werden kann, fliesst die Mehrheit der Devisen wieder ab für Importe von Luxusgütern und Leistungen von ausländischen Anbietern.
Die teuren Infrastrukturen wie Flughäfen, Wasser- und Stromversorgung oder die Beseitigung von Müll belasten die Staatskassen, während die Einnahmen durch grosszügige Investitionsanreize wie günstiges Land oder Steuerfreiheit auf mehrere Jahre hinaus geschmälert werden. In beliebten Destinationen wie Cancún (Mexico) oder auf den Malediven etwa steigt derzeit die Verschuldung. Und die Abhängigkeit erweist sich als fatal, sobald der Tourismus aufgrund von Naturkatastrophen oder politischen Ereignissen in die Krise gerät. So subventionierten Ägypten oder Tunesien nach dem arabischen Frühling auch die Flugtickets der Ferienreisenden, um den Tourismus wieder anzukurbeln. Zudem hat seit 1994 die Mehrheit der Staaten im Rahmen der GATS-Verhandlungen der Welthandelsorganisation (WTO) Tourismusdienstleistungen zur Liberalisierung angeboten und Sonderzonen für Tourismus eingerichtet, was die Kontrolle und Regulierungsmöglichkeiten der Staaten zur Wahrung der Rechte der Einheimischen stark einschränkt. Vor allem aber führten die Liberalisierungen zu einem globalen Überangebot und erbitterten Konkurrenzkampf unter den Destinationen. Mit dem Resultat, dass das Reisen so günstig wurde wie noch nie, weil weltweit Anbieter, um wettbewerbsfähig zu bleiben, Betten, Natur- und Kulturschätze unter Wert verkaufen und von den globalen Tourismuskonzernen leicht gegeneinander ausgespielt werden können, sobald die Buchungen stagnieren.
Die seit der Jahrtausendwende eigens für den Tourismus zuständige UN-Organisation UNWTO wird nicht müde, den Tourismus als vitale Kraft zu preisen, die neue Einkommen und Arbeitsplätze schaffe, Investitionen anziehe, aus der Armut führe, Natur und Biodiversität schützen helfe, kulturelles Erbe und die Verständigung der Völker fördere und damit jetzt zur Erreichung der globalen Nachhaltigkeitsziele (SDGs) der UN-Agenda 2030 beitrage. Der Tourismus gilt mit über 300 Millionen direkt und indirekt Beschäftigten als einer der grössten Arbeitgeber der Welt. Doch die Arbeitsbedingungen im Sektor werden von der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) generell als prekär eingestuft: saisonal, flexibilisiert und oft an Subunternehmen ausgelagert, die keine Mindestanforderungen einhalten. Destinationen werden zu Magneten der Arbeitsmigration. Die Mehrheit der Beschäftigten sind Frauen, die im Schnitt 15 Prozent weniger verdienen als ihre Kollegen in gleicher Stellung. Meist haben sie neben der Verantwortung für die Kinder auch die Lasten der steigenden Lebenshaltungskosten und verminderten Lebensqualität in den Tourismusorten zu tragen. Da werden oft auch Kinder als Billigstarbeitskräfte eingespannt und sind der sexuellen Ausbeutung besonders ausgesetzt. Unter internationalem Konkurrenzdruck werden Ländereien und Küstengebiete neu für den Tourismus erschlossen und grossflächig Naturschutzgebiete ausgezont, die mit Einnahmen aus dem Tourismus unterhalten werden sollen. Bäuerinnen und Fischer verlieren damit ihre Subsistenzgrundlage. So verschärft der Tourismus auch soziale Ungleichheiten. Das scheint allerdings nie in den Erfolgsbilanzen des Tourismus auf.
Spätestens seit den Schlagzeilen zum "Overtourism" und den Protestbewegungen in Städten wie Venedig und Barcelona oder der Schliessung von beliebten Inseln etwa in Thailand wird klar, dass der Wachstumsmotor Tourismus an seine Belastungsgrenzen gestossen ist. Mit den Klimastreiks der jungen Menschen ist die übermässige Klimabelastung durch die gedankenlose Vielfliegerei ins Zentrum politischer Debatten gelangt. Der Tourismus ist Ausdruck schlechthin der globalen (Un)Ordnung, die heute unser Zusammenleben auf dem Planeten Erde gefährdet. Es wird mehr als die von der UNWTO im Einklang mit Regierungen und Tourismusunternehmen propagierten kosmetischen Änderungen im Tourismus benötigen, um den tiefgreifenden Wandel des Sektors zu bewirken, der für die Erreichung der SDGs notwendig ist. Noch gibt es erst einzelne Tourismusunternehmen, die klar sagen, dass sie nicht wachsen müssen, um profitabel und erst noch fair unterwegs zu sein.