Die burmesische Regierung hat seit Juni 2011 im Zusammenhang mit den Kämpfen in Burmas nördlichem Staat Kachin gravierende Menschenrechtsverletzungen begangen und humanitäre Hilfe für Zehntausende Flüchtlinge blockiert, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht. Etwa 75’000 vertriebene und geflüchtete ethnische Kachin benötigen dringend Nahrung, Medizin und Unterkünfte.
Der 83-seitige Bericht "’Untold Miseries›: Wartime Abuses and Forced Displacement in Burma’s Kachin State" beschreibt die Angriffe der burmesischen Armee gegen Dörfer der Kachin, bei denen Häuser zerstört und geplündert sowie Zehntausende vertrieben wurden. Soldaten haben Zivilisten in Verhören bedroht, gefoltert und Frauen vergewaltigt. Darüber hinaus hat die Armee Antipersonenminen eingesetzt und auch Kinder im Alter von 14 Jahren gezwungen, an der Front zu arbeiten.
"Die burmesische Armee verletzt in Kachin ungehindert Menschenrechte, während die Regierung denjenigen humanitäre Hilfe verweigert, die sie am dringendsten benötigen", sagt Elaine Pearson, stellvertretende Leiterin der Asien-Abteilung von Human Rights Watch. "Sowohl die Armee als auch die Kachin-Rebellen müssen unverzüglich dafür sorgen, dass sich die schreckliche Situation der Zivilbevölkerung nicht weiter verschlechtert."
Human Rights Watch ist im Jahr 2011 zweimal nach Kachin gereist, hat neun Lager für Binnenflüchtlinge sowie Gebiete in der chinesischen Provinz Yunnan besucht, in die viele Kachin geflohen sind, und beobachtet die Situation kontinuierlich. Der Bericht basiert auf mehr als 100 Gesprächen mit Vertriebenen, Flüchtlingen und Opfern von Misshandlungen sowie mit Rebellen der Kachin, Deserteuren der burmesischen Armee und Mitarbeitern von Hilfsorganisationen.
Die burmesische Regierung und die Unabhängigkeitsarmee der Kachin (Kachin Independence Army, KIA) müssen effektive Massnahmen ergreifen, um die Menschenrechtsverletzungen durch ihre Truppen zu beenden, humanitären Organisationen Zugang gewähren und durch einen unabhängigen, internationalen Mechanismus ermöglichen, dass die Menschenrechtsverletzungen auf allen Seiten untersucht werden.
Nach einem 17-jährigen Waffenstillstand begann die burmesische Armee im Juni 2011 in einem umkämpfen Gebiet, in dem ein chinesischer Staudamm liegt, gegen die KIA vorzugehen.
Vertriebene Zivilisten der Kachin berichteten, von der burmesischen Armee zur Arbeit an der Front gezwungen, gefoltert und von Soldaten beschossen worden zu sein. Burmesische Truppen haben Zivilisten vorsätzlich und willkürlich mit Handfeuerwaffen und Granaten angegriffen. Auch Beweise für Vergewaltigungen durch burmesische Soldaten liegen vor.
Ein Mann, der 19 Tage als Träger für die Armee arbeiten musste, berichtete, dass er mehrfach mit ansehen musste, wie zwei Frauen vergewaltigt wurden. "Die Soldaten sind gekommen, haben die Frauen mitgenommen und von Zelt zu Zelt gebracht. Wir hatten solche Angst und konnten nicht die ganze Nacht nach ihnen sehen. Am nächsten Morgen konnten sie kaum laufen. Sie schienen grosse Schmerzen zu haben und haben sich bei jeder Bewegung gekrümmt. Und sie haben geweint."
Auch die KIA hat gravierende Menschenrechtsverletzungen begangen. Unter anderem hat sie Kindersoldaten rekrutiert und Antipersonenminen eingesetzt. Die Rückkehr vertriebener Zivilisten nach dem Ende der Feindseligkeiten wird massiv dadurch erschwert, dass beide Seiten willkürlich Minen gegen Kämpfer und Zivilisten einsetzen.
Die burmesische Regierung soll das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte aufrufen, ein Büro in Burma einzurichten, das mit einem Mandat für die Förderung und den Schutz der Menschenrechte sowie für technische Hilfe ausgestattet ist.
Die neu eingerichtete Nationale Menschenrechtskommission in Burma hat die Verbrechen in Kachin nicht effektiv überwacht. Im Februar 2012 kündigte der Vorsitzende, Win Mra, an, dass die Kommission Vorwürfe von Menschenrechtsverletzungen im Zusammenhang mit ethnischen bewaffneten Konflikten nicht untersuchen werde, da die Regierung sich um einen Waffenstillstand bemühe.
"Die Regierungen, die in Burma aktiv sind, sollen unverzüglich die Einrichtung eines unabhängigen, internationalen Mechanismus unterstützen, der die von allen Seiten verübten Menschenrechtsverletzungen in Kachin und anderen ethnischen Gebieten untersucht", so Pearson. "Ohne die UN wird es keine objektive Untersuchung der Verbrechen geben. Wenn sie eingreift, kann dies dazu beitragen, weitere Menschenrechtsverletzungen zu verhindern."
Von den 75’000 seit Juni 2011 vertriebenen Zivilisten in Kachin haben mindestens 45’000 Zuflucht in 30 Lagern für Binnenflüchtlinge gesucht, die sich auf dem von der KIA kontrollierten Territorium entlang der burmesisch-chinesischen Grenze befinden. Die burmesische Regierung hat UN-Organisationen nur ein einziges Mal, im Dezember 2011, Zugang zu diesem Gebiet gewährt. Auch dann hatten UN-Mitarbeiter keinen Zugang zu mehreren Orten, an denen sich Zehntausende Binnenflüchtlinge aufhalten. In den von ihr kontrollierten Gebieten versuchen die KIA und ein Netzwerk lokaler Organisationen, den wachsenden humanitären Anforderungen gerecht zu werden. Allerdings werden zivile Hilfsorganisationen, die ausserhalb des Staats Kachin agieren, nur sporadisch und ungenügend von internationalen Akteuren unterstützt.
Die Binnenflüchtlinge in Kachin benötigen Nahrungsmittel und andere lebensnotwendige Güter wie Medizin, Decken, warme Kleidung, Feuerholz und Benzin sowie angemessene Unterkünfte.
Dass sich die Situation inKachin zunehmend verschlechtert, steht in starkem Gegensatz zu den positiven Entwicklungen im burmesischen Tiefland in den vergangenen Monaten. Dort wurden prominente politische Gefangene freigelassen, zahlreiche Reformen auf den Weg gebracht und die Pressefreiheit verbessert. Bei den für den 1. April angesetzten Nachwahlen wird die Oppositionsführerin Aung San Suu Kyi für einen Parlamentssitz kandidieren.
"Es ist noch ein weiter Weg, bis die versprochenen Reformen bei allen Menschen in Burma ankommen, gerade in den Konfliktregionen", sagt Pearson. "Die internationale Gemeinschaft darf nicht hinnehmen, dass in Burma immer noch massive Menschenrechtsverletzungen verübt werden."
Beispiele der aufwühlenden Aussagen von Betroffenen finden Sie unter der Pressemeldung auf der Website von Human Rights Watch

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