Caritas Schweiz: Trotz Einkommen kein Auskommen
Gastgewerbe, Verkauf, Reinigung – anhand dieser drei Dienstleistungssektoren zeigt die Caritas-Studie die Mechanismen auf, die dazu führen, dass Leute voll erwerbstätig sind und doch zum Leben nicht genügend verdienen. Die Wahl der drei Beispiele ist nicht zufällig, gehören sie doch zu den Niedriglohnbranchen, die für Erwerbstätige ein besonders hohes Risiko aufweisen, einen nicht existenzsichernden Lohn zu beziehen. Frauen machen in diesen Branchen die Mehrheit der Beschäftigten aus und sind deutlich stärker als Männer dem Risiko ausgesetzt, zu einem tiefen Lohn arbeiten zu müssen. Armut trotz Arbeit – das ist, so schätzen die AutorInnen der Studie, Anna Liechti und Carlo Knöpfel, bittere Realität für 250’000 Personen in der Schweiz, dem Land mit den paradoxerweise höchsten durchschnittlichen Einkommen der Welt. Als working poor bezeichnen sie die Mitglieder eines Haushaltes, in dem eine oder mehrere Personen zusammen mindestens zu 90 Prozent erwerbstätig sind, damit aber bloss einen Verdienst unter der Armutsgrenze erzielen. Die Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe legt die Armutsgrenze bei einem Grundbedarf für den Lebensunterhalt fest, der nach Haushaltsgrösse abgestuft ist. Entgegen allgemeinen Vermutungen ist nicht die Erwerbslosigkeit allein ein Grund zur Armut. In der Schweiz sind rund 70 Prozent der Armen im Erwerbsalter arm, obwohl mindestens ein Haushaltsmitglied vollerwerbstätig ist. Die niedrigen Löhne in den drei als Beispielen gewählten Dienstleistungssektoren lassen sich nicht allein auf die schlechte berufliche Qualifizierung der Arbeitnehmenden zurückführen. Viele Arbeitsplätze in den drei Branchen gehören zu den sogenannt persönlichen Diensten, die generell schlecht entlöhnt werden. Zudem sind Merkmale wie prekäre Arbeitsverhältnisse, Saisonarbeit oder Arbeit auf Abruf, Teilzeitarbeit zu Löhnen, die auf Vollerwerbstätige ausgerichtet sind, ein hoher Anteil an Arbeitslosen und an ausländischen Arbeitnehmenden sowie ein niedriger Grad an gewerkschaftlicher Organisation den drei Beispielen gemein. Zwar trat im Gastgewerbe nach längerem vertragslosem Zustand Ende 1998 ein neuer Gesamtarbeitsvertrag in Kraft, der aus Sicht der Gewerkschaften eine Verbesserung darstellt (s. dazu akte-kuna 1/99); doch bewegen sich die neu vereinbarten Löhne an der absolut untersten Lohngrenze. Ist dies allein auf die Schwäche der Position der Arbeitnehmenden zurückzuführen oder auch auf strukturelle Schwächen der Branche, die unter Strafe des Konkurses gar keine höheren Löhne zu zahlen vermag? Die Frage der AutorInnen der Caritas-Studie bleibt vorerst im Raum und richtet sich nur umso dringlicher an die Verantwortlichen aus den betreffenden Branchen, insbesondere auch aus Gastgewerbe, Tourismusindustrie und zuständigen Behörden. Menschen, deren Lohn zum Leben nicht ausreicht und die auf keine anderen Ressourcen zurückgreifen können, müssen sich mit Schwarzarbeit durchschlagen oder werden fürsorgeabhängig. Vor allem Letzteres wird in der Caritas-Studie klar angeprangert: Indem die staatliche Sozialhilfe Familien mit zu niedrigen Einkommen unterstützt, subventioniert sie indirekt die ArbeitgeberInnen. Diese können die Löhne weiterhin tief ansetzen im Wissen darum, dass die Fürsorge die Differenz zum Existenzminimum ausgleicht. Mit einer ganzen Palette von Handlungsempfehlungen im arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Bereich skizziert die Studie der Caritas, wie die soziale Sicherheit auch im gesellschaftlichen Wandel für alle gewährleistet werden kann.
Ein Positionspapier der Caritas Schweiz von Anna Liechti und Carlo Knöpfel. Caritas Verlag, Luzern 1998. 120 Seiten, Fr. 19.80, ISBN 3-85592-055-9