Suchend schweift Chandrikas Blick über das unübersichtliche, von dichter tropischer Vegetation überwucherte Gelände vor dem Haus. "No tourist coming", stellt sie nach einer Weile resignierend fest. Obwohl die Saison noch nicht zu Ende ist, finden dieses Jahr nur wenige der RucksacktouristInnen den Weg zu Chandrikas Haus.
Ein Einblick aus dem Buch von Karin Grütter und Christine Plüss (Hrsg.): Herrliche Aussichten! Frauen im Tourismus, Zürich 1996

Ausgebucht war es nur in der Weihnachtszeit, als unten am Strand alles belegt war. Der Boom der achtziger Jahre hat Kovalam zum bedeutendsten Ort auf der touristischen Landkarte des südindischen Bundesstaates Kerala werden lassen. Aber nicht alle Einheimischen können so gute Geschäfte machen wie die grossen Unternehmer am Strand mit ihren umsatzträchtigen Restaurants und Unterkünften.
Seit fünfzehn Jahren vermietet Chandrika Zimmer an ausländische TouristInnen. Ausserhalb der Saison nutzen sie, ihr Ehemann und die drei Kinder das einfache Haus ausschliesslich zum Wohnen. In der Spitzensaison, wenn bis zu sechs der insgesamt sieben Räume vermietet sind, wird es eng. Dann muss die Familie zusammenrücken und auf dem Boden schlafen, weil die vorhandenen Betten von den TouristInnen benutzt werden. Die Einnahmen durch die Zimmervermietung, rund 15’000 Rupees pro Saison (etwa 700 SFr.), tragen ganz erheblich zum Unterhalt der Familie bei. Ein zusätzlicher Verdienst ergibt sich durch die Verköstigung der Gäste mit Thalis, den typischen südindischen Reismahlzeiten. Auf diese Weise hat sich Chandrika eine grosse Autonomie erwerben können, und sie lässt dies ihren Mann, der schlechtbezahlt als Anstreicher arbeitet, auch spüren. Er muss sich ihren Vorstellungen oft beugen.
Die Autonomie hat ihren Preis. Zwar ist die Arbeit, die vor allem in der mühsamen Zubereitung der Mahlzeiten auf dem Holzfeuer und dem russenden Kerosinbrenner besteht, nicht ganz so hart wie zum Beispiel die Plackerei auf einem Reisfeld. Aber es ist ein Job, der morgens um sieben Uhr beginnt und erst um neun Uhr abends endet. Tagsüber kann Chandrika das Haus nur für kurze Zeit verlassen, da sie auf Neuankömmlinge warten muss. Das Bangen, ob Gäste kommen oder nicht, ist oft lästig. Viele der bei Chandrika logierenden RucksacktouristInnen bemühen sich um rücksichtsvolles Verhalten. Andere werden zu einer Belastung, vor allem diejenigen, die unter dem schattigen Vordach eine Haschischpfeife nach der anderen rauchen. Ihre Kinder hält Chandrika von diesen Leuten lieber fern. Sie muss das Verhalten der zahlenden Gäste gegen ihren Willen tolerieren. Dabei hilft nur das Wissen, dass sie mit den Einnahmen aus der Vermietung letztlich die höhere Schulausbildung der Töchter finanzieren kann. Darauf ist Chandrika besonders stolz, schliesslich sollen sie es einmal besser haben.
Chandrika ist eine der wenigen Frauen in Kovalam, die ein Haus geerbt hat und so am Geschäft mit dem Tourismus teilhaben kann. Früher, als hier wie in ganz Kerala eine matrimoniale Erbfolge üblich war, hatten die Frauen eine relativ starke Position in der Gesellschaft. Übriggeblieben sind davon heute eine niedrigere Geburtenrate, ein höheres Heiratsalter und bessere Bildungschancen als sonst in Indien üblich. Abgesehen davon hat sich die Situation der Frauen allgemein verschlechtert. Nur selten können sie einen Arbeitsplatz finden. Das gilt auch für den von den PolitikerInnenn in Kerala als modern gepriesenen Tourismussektor. Alle qualifizierten Arbeiten mit entsprechend hohem Einkommen wie zum Beispiel die Tätigkeit als Rezeptionist, bleiben in Kovalam den Männern vorbehalten. Lediglich im staatlichen Fünfstern-Hotel erzwingt eine Quotenregelung die Teilhabe von Frauen an den begehrten Arbeitsplätzen.
Der Mangel an regulären Stellen zwingt in Kovalam viele Frauen, sich im informellen Sektor, der staatlich nicht anerkannten touristischen Schattenwirtschaft, selbständig zu machen. Nur selten gelingt dies so profitabel und gesichert wie bei Chandrika. Typisch ist eher die Situation der "Fruit Ladies", den Obstverkäuferinnen, die mit ihren voll beladenen Körben am Strand nach potentiellen KäuferInnen Ausschau halten. Ihr Lockruf „pineapple, papayas, mangos, cheaper price,“ ist überall gegenwärtig, und viele TouristInnen fühlen sich dadurch beim Sonnenbaden belästigt. Andere lassen sich gerne auf ein Schwätzchen mit den Kleinhändlerinnen ein, ohne dies immer mit einem Kauf zu verbinden.
Doch manchmal bricht bei den Obstverkäuferinnen die Verbitterung über ihre schwierige Lage hervor. Dann beschweren sie sich über die reichen NichtstuerInnen aus dem Westen, die ihnen nicht mal ein paar Rupees gönnen und stattdessen lieber teure Schokoriegel kaufen. Sie schimpfen mit einer Mischung aus Wut, Angst und Ohnmacht auf die "Tourism Police", die sie immer wieder vom Strand vertreibt. Die Landesregierung will den Rucksacktourismus zugunsten des Luxustourismus zurückdrängen. Der informelle Sektor mit seinen vielen illegalen Strandrestaurants und mobilen Kleinsthändlerinnen bekommt die Auswirkungen dieser "Clean-up-Kovalam"-Kampagne zuerst zu spüren.
Die Fruit Ladies stammen aus den untersten Kastengruppen der umliegenden Dörfer. Allein deswegen werden sie von vielen Höherkastigen in Kovalam herablassend behandelt. Der direkte Kontakt mit den meist männlichen Touristen gehört sich nach Ansicht der konservativen Hochkastigen nicht für Frauen, und schon gar nicht für jüngere im heiratsfähigen Alter. An diese Altersbegrenzung halten sich selbst die "Fruit Ladies" – sie sind alle über 40 Jahre alt. Nur bei einer Nomadenfamilie, die aus dem weit entfernten Karnataka kommt und farbenprächtige Textilien anbietet, feilschen auch jüngere Frauen mit den TouristInnen. Aber diese Familie gilt in Kovalam als nicht zur Gemeinschaft gehörend und kann sich daher mehr herausnehmen. Die einzige positive Seite der rigiden Moral ist, dass anders als in vielen anderen touristischen Zentren Prostitution kaum zu beobachten ist.
An der in Kovalam üblichen Rollenverteilung, die Frauen einen Platz nur im häuslichen Bereich und in der Landwirtschaft zuweist, ändert der Tourismus wenig. Bezeichnend ist auch, dass die am Tourismusgeschäft beteiligten Frauen in Kovalam nur etwa 40 Prozent des Durchschnittsverdienstes von Männern erzielen, weil sie in wenig gewinnträchtige Bereiche abgedrängt werden. Das sind neben dem Obstverkauf vor allem Reinigungs- und Küchenarbeiten.
Neben den relativ wenigen Frauen, die so wie Chandrika als selbständige Unternehmerinnen im Tourismus ein eigenes Einkommen erwirtschaften, gibt es natürlich auch in Kovalam eine grosse Zahl von Frauen, die unbezahlte Zuarbeit leisten. Etwa die Ehefrauen und Verwandten der Unterkunftsbesitzer, denen oft die Zimmerreinigung überlassen wird. Weil zumindest in der Hauptsaison die Männer häufig Haus und Familie vernachlässigen, sind viele Frauen bei der Erziehung der Kinder und zum Teil in der Landwirtschaft ganz auf sich gestellt. Auch die negativen Auswirkungen des Tourismus gehen vor allem zu Lasten der Frauen. Zum Beispiel sind die Lebensmittelpreise in Kovalam wegen der grossen Nachfrage durch die Restaurants so hoch, dass die Hausfrauen auf weiter entfernt gelegene Märkte ausweichen müssen. Und die schlechte Wasserqualität, die auf die ungeklärten Abwässer der Hotels zurückgeht, zwingt viele Frauen, das kostbare Nass zu Fuss von anderen Brunnen zu holen. Das von den TouristInnen so geschätzte "tropische Paradies" ist nicht für alle paradiesisch.
aus: Karin Grütter und Christine Plüss (Hrsg.): Herrliche Aussichten! Frauen im Tourismus, Zürich 1996.