Heute war ein Riesen-Stress. Eine Kollegin und ich sind auf dem Weg von Ramallah nach Jerusalem. Wie die werktätigen PalästinenserInnen, die abends aus dem Norden nach Ost-Jerusalem zurückkehren, stehen wir im Qalandia-Checkpoint und harren der Dinge, die da kommen. Fast hätten wir die neue Einteilung verpasst, von der die hebräische Überschrift kündet: Frauen stehen rechts in einer Frauen-Zone, getrennt von den Männern, die sich links in einer Männer-Zone einzuordnen haben. Und fast wären wir zu breit geraten, um uns mitsamt unseren Taschen durch die neu erstellten, engen Gitterkanäle Richtung Wartezone zu quetschen. Wie oft ist da wohl schon eineR stecken geblieben?
Die Wartezone füllt sich, auf der anderen Seite des schweren Trenngitters lümmeln sich junge SoldatInnen mit grossen Gewehren und kleinen Handys, ihre gestiefelten Füsse liegen auf dem Tisch, sie fläzen in den Bürosesseln, sie haben es lustig, sie haben es nicht eilig. Zuerst noch ein Lächeln in die Handy-Kamera, ein Klick und dann lassen wir mal eine einzelne Frau mit ihrem Kind durch die Drehtür. Das Gedränge in der Wartezone nimmt zu, es nimmt sogar so fest zu, dass die Vordersten an die Gitter gedrückt werden und nun lauthals protestieren. Die Frau mit ihrem Kind wird von den SoldatInnen nach 10-minütigem verbalem Schlagabtausch zurückgeschickt nach Ramallah oder sonst wohin. Sie versucht, durch die Gitter-Drehtür ins Gedränge zurückzugelangen und sich einen Weg zu bahnen durch die Menschen, die immer aufgeregter werden. Eine Stunde ist vorbei. Es ist zu laut, es wird zu eng hier, die Überwachungskameras filmen uns ruhig, wie wir so eingeklemmt dastehen, sie registrieren die Unruhe und den zunehmenden Stress. Aber nicht, dass diese Aufnahmen die SoldatInnen hinter ihrem Schalter dazu ermuntern würden, wenigstens ihre Arbeit zügig zu tun und die Situation zu entspannen. Dort drüben kollabiert eine Frau, sie war schon blass, als sie in die Wartezone kam. Es gibt keinen Platz für sie zum Umfallen, sie wird gestützt von ihren Freundinnen, die sie durch das Gedränge zurück nach draussen mehr schubsen als tragen. Eine junge Mutter, die standhaft ihren Platz verteidigt, sagt zu mir: «Das hier erlebe ich jeden Tag, jeden Tag!» Sie trägt ein Kleinkind auf dem Arm und versucht, das zweite Kind, das an sie gedrückt dasteht, nicht zu verlieren. Endlich ist wieder eine Stunde vorbei und wir sind etwa einen halben Meter vorgerückt. Das kann noch eine Weile dauern.
Knapp eine Stunde später treffen wir uns wieder, am Ausgang von Qalandia. Erneut sagt die junge Mutter: «Das hier erleben wir jeden Tag, jeden Tag! Kannst Du Dir das vorstellen?»
Nach meinen zahllosen Hin- und Herreisen über Qalandia, die sicher nicht immer einfach waren, wurde ich heute etwas unsicher, als mir die Partnerinnen vor der Abfahrt mit auf den Weg gaben: «Pass auf, wenn Du nach Qalandia kommst – die Situation hat sich dramatisch verschlechtert, es wird unangenehm!» Nun bin ich empört und hilflos und denke traurig: «Wie sollen wir denn arbeiten, wenn wir uns jeden Tag in dieser oder einer ähnlichen Situation vorfinden?»
Im Hotel beschliessen meine Kollegin und ich, morgen Abend ein Sonder-Taxi zu besteigen, das uns in einem grossen Bogen um Qalandia herumführen wird. Wir werden an einem kleinen Seiten-Checkpoint in ein Taxi mit israelischem Nummernschild umsteigen und dann innerhalb von zehn Minuten im Hotel sein. Wir werden von Ramallah nach Jerusalem eine Stunde Zeit benötigen und einen ordentlichen Preis für das Taxi bezahlen. Wir werden im klimatisierten Gefährt entspannt unser Ziel erreichen. Wir werden es tun können, denn ein Schweizerpass und ein gefülltes Portemonnaie stellen die verlorene Geduld rasch wieder her. Die PalästinenserInnen werden morgen keine Wahl haben, sie werden wieder nach Norden fahren und sich am Abend, während der rush-hour, ihren Weg durch Qalandia erkämpfen und dabei – mit gerissenen Geduldsfäden – eine Ration Demütigung einfangen. Wie jeden Tag.
Wiedergabe des Berichts mit freundlicher Genehmigung. Dieser und weitere spannende Beiträge erscheinen in der Septemberausgabe der cfd-Zeitung am 17. September 2010. Weitere Informationen: www.cfd-ch.org