Christina Kamp, Jose Punnamparambil (Hg.): Drei Blinde beschreiben den Elefanten
„Wie ein grosser Stein“, sagt der Blinde, der des Elefanten Bauch ertastet, „wie ein Besen“, meint der, der den Schwanz zu fassen kriegt, „wie eine Schlange“, „wie ein Speer“, „wie ein Bananenstamm“, mutmassen weitere. Die Geschichte von den Blinden, die einen Elefanten beschreiben, ist in ganz Indien bekannt und wird auch im südindischen Bundesstaat Kerala gerne herangezogen, wenn es um Ansichten und selektive Wahrnehmung geht.
„Was ist eigentlich Sicht?“ fragt einer der Blinden den sehenden Erzähler der Kurzgeschichte von E. Santoshkumar, die für den Titel des vorliegenden Sammelbandes mit zeitgenössischer Literatur aus Kerala Pate stand. Die Antwort liefern die drei blinden Protagonisten der Kurzgeschichte – ein Telefon-Vermittler, ein Musiklehrer und ein Touristenführer – auch gleich selber, indem sie den Kricket-Match kommentieren, den sie eben inmitten der Kricket-Fans vor einem Fernsehgeschäft in der Stadt verfolgt haben, indem sie darüber streiten, ob sie selber einen Fernseher anschaffen wollen, und wenn sie, vom Erzähler aufgefordert, den Elefanten beschreiben: ein furchteinflössendes Erdbeben für den einen, ein schöner bunter Traum für den zweiten, eine unbeholfen tätowierte Figur, die sich der dritte Blinde auf den Oberschenkel ritzen liess, um den Elefanten in seiner Gestalt erspüren und wahrnehmen zu können.
Gleichsam als Teilansichten einer grossen vielfältigen Wirklichkeit fügen sich die für den Sammelband ausgewählten Geschichten und Gedichte verschiedenster AutorInnen und Stilrichtungen zu einem lebendigen Bild des Literaturschaffens im heutigen Kerala. Die Original-Werke sind aus dem Malayalam übersetzt, einer ursprünglich aus dem Tamil entstandenen Sprache, die zwar von nur vier Prozent der indischen Bevölkerung gesprochen wird, dank ihrer Vielschichtigkeit aber eine der fortschrittlichsten und lebendigsten Literaturen des Subkontinents hervorzubringen vermag.
Mitentscheidend für deren Erfolg sind die besonderen Bedingungen im südindischen Bundesstaat Kerala: der hohe Bildungsstand, progressive gesellschaftliche Reformbewegungen und ein hohes politische Bewusstsein in der Öffentlichkeit sowie ein aktives Zeitungs- und Verlagswesen.
Aus der Fülle dieses literarischen Schaffens haben die Herausgeber – der profunde Literaturkenner Jose Punnamparambil, der über ein breites Beziehungsnetz zu Intellektuellen und AutorInnen in Kerala verfügt, sowie die deutsche Journalistin, Übersetzerin und Kerala-Expertin Christina Kamp – eine Anthologie zusammengestellt, die LeserInnen im deutschsprachigen Raum einen interessanten Querschnitt durch die Malayalam-Literatur zeitgenössischer, hierzulande meist noch völlig unbekannter AutorInnen bietet.
Keine leichte Aufgabe war es auch für die ÜbersetzerInnen, nicht nur zwischen den unterschiedlichen Sprachen, sondern auch zwischen den Kulturen Brücken zu bauen, um der Leserschaft die AutorInnen mit ihren eigenen Stilmerkmalen näher zu bringen. Das ist ihnen gelungen – leichtfüssig und unterhaltend eröffnen die verschiedenen Erzählungen und Gedichte immer neue Sichtweisen auf eine Welt, die westlichen BetrachterInnen fremd und zumeist verschlossen bleibt. So entpuppt sich diese kleine, aber feine Anthologie als wertvoller Türöffner und unentbehrlicher Reisebegleiter für alle, die sich gerade jetzt in die immer beliebtere „Destination“ Kerala aufmachen.
Horlemann Verlag 2006, 207 Seiten, SFr. 23.50, Euro 12.90, ISBN 10 3-89502-223-3