Christoph Hennig: Reiselust. Touristen, Tourismus und Urlaubskultur
Reisen ist schön, und alles wird gut – mit diesen optimistischen Feststellungen rahmt die Berliner Tageszeitung (taz) ihre Besprechung des Buches "Reiselust" des deutschen Sozialwissenschafters Christoph Hennig ein. Eine gute Dosis Zuversicht verströmt auch der Klappentext des Buches, der ankündigt, hier werde "zum erstenmal der Versuch unternommen, das Phänomen des modernen Touris-mus in seiner Gesamtheit zu beschreiben und zu untersuchen". Daran haben sich – das darf bescheiden angemerkt werden – schon ein paar andere versucht und dabei die Zähne ausgebissen. Denn am Anspruch der "Gesamtheit" gemessen, scheitert Hennig klar. Mickrige Miesmacherei – hört man förmlich die geneigte Leserschaft aufstöhnen, wo doch die wissenschaftlichen Fachkreise nun endlich ihren "Shooting-Star der Theorieszene" gefunden haben, der ungehemmt von moralisierenden Altlasten der kritischen Tourismusbetrachtung in der Sinneslust des Reisens schwelgt. Das ist unbestritten auch die Stärke des Buches. Aufschlussreich sind Hennigs Ausfüh-rungen, wenn er sich auf die Gebiete bezieht, die ihn offensichtlich besonders interessieren: Reisemotivationen, Reisen als Differenz zum Alltag, Reisen als Spiel, als Ritual, Reisen als "sinnliche Erfahrung imaginärer, fiktiver Welten", die touristische Wahrnehmung, die "ästhetisiert und typisiert wie der Film". Da hat er Recht, das Reisen hat seine eigene Faszination, die mit der alten These von der Reise als Flucht nicht erfasst werden kann. Dies belegt Hennig anhand breiter Quellen auch aus dem englischen und französischen Wissenschaftsraum, die er dem deutschen Publikum in lockerem Ton eingängig wiederzugeben vermag – ein verdienstvoller Beitrag für eine längst überfällige Rezeption wichtiger Grundlagen der Tourismusforschung. Klar wird dabei, dass der Tourismus gar nicht so "uner-forscht" ist, wie der Autor eingangs meint. Zumindest der kulturanthropologi-schen Erfassung und Interpretation des Camping- oder Badeurlaubers (Frauen sind wohl mitgemeint?) scheinen praktisch keine Grenzen gesetzt, und auch die künstlichen Freizeitwelten inspirieren die ansonsten eher trockenen Sozialwissen-schaften immer wieder zu neuen erkenntnistheoretischen Höhenflügen. Spannend könnte auch sein, dass Hennig mit Kritik nicht spart. Doch diese schiesst sich im wesentlichen auf die "verbreiteten anti-touristischen Haltungen" ein, wobei nicht immer klar wird, wer was verbreitet. Nicht gerade neu, aber einleuchtend ist sicher seine Kritik an der elitären Kritik des sogenannten Massen-tourismus im Stil: Die Touristen sind immer die anderen. Problematischer wird es, wenn sich der Autor zum "Kulturkontakt" zwischen Reisenden und Einheimischen äussert, indem er vorab die nicht näher verortete pauschale Behauptung, der Tourismus wirke sich zerstörerisch auf Kultur und Lebensformen der Besuchten aus, zu widerlegen versucht. Wer solches behaupte, sei enttäuscht, nicht den herbeigesehnten "Edlen Wilden" vorgefunden zu haben. Der Tourismus habe dauerhafte Folgen für die Sozialstruktur der Reisegebiete; er wirke "im Sinn jener Entwicklung, die gemeinhin als ‹Modernisierung› bezeichnet wird, und trage zur Anpassung an die Lebensweisen der westlichen Industriegesellschaften bei". Drei Beispiele bemüht der Autor, um das Spannungsfeld zwischen Modernisierung und Bewahrung von Traditionen in der Bevölkerung der Reisezielorte zu erörtern. Dabei findet er, ganz im Einklang mit dem Grundtenor des Buches, sehr positive Einflüsse des Tourismus sowohl auf den Inseln der Ägäis wie bei den Sherpas in Nepal und auf Bali. Misstöne wie etwa der Konflikt um das Tourismusprojekt im balinesischen Tanah Lot haben da keinen Platz. Stimmt – da ging es ja nicht um konservative Werterhaltung, sondern schlicht und einfach um die Erhaltung von Lebensgrundlagen. In diesem Kapitel lässt der sonst so belesene Autor doch einige interessante Quellen aus, zum Beispiel von AutorInnen aus touristischen Zielgebieten. Ein paar Probleme macht Hennig dann doch aus, zum Beispiel ökologische Folgen von Tourismusentwicklung und Reiseverkehr, Devisenabfluss, Inflations-tendenzen und verstärkte soziale "Ungleichheit" in Ländern der Dritten Welt. Letztere seien allerdings nicht in erster Linie Folgen des Tourismus, sondern "allgemeiner im Verhältnis zwischen den westlichen Industrieländern und der Dritten Welt begründet", wie wenn Tourismus nicht Teil dieses Verhältnisses wäre. Die Probleme bleiben in dieser "gesamtheitlichen" Betrachtung eigenartig losge-löst im Raum stehen. Irgendwie fehlt es da an einem gesamtheitlicheren Ver-ständnis des Tourismus, der halt doch mehr ist als einzelne Menschen, die reisen. Das Erfassen der Auswirkungen bedingt ein anderes Augenmerk. So mag etwa der Tourismus in die sogenannte Dritte Welt im Rahmen der weltweiten Ströme als marginal bezeichnet werden; die Auswirkungen auf die von Tourismusentwicklung betroffenen Menschen sind es nicht. Das hat mittlerweile sogar die Welttourismusorganisation erkannt (z.B. Manila-Deklaration), auf deren Quellen sich abzustützen auch für die Tourismusförderung, geschweige denn die Sozial-wissenschaften nichts unrühmliches hat. Mit ein paar abstrakten Zahlen zur Stärke des Wirtschaftsfaktors Tourismus kann leider noch nicht viel zur Tourismus-industrie selbst und ihren Verflechtungen ausgesagt werden, und noch weniger über das Verhältnis, in dem Reisende, vor allem aber die Menschen in den touristischen Zielgebieten zu ihr stehen. Es ist nicht abzustreiten, dass in der Tourismuskritik zuweilen der "Edle Wilde" den Blick auf eine umfassendere Sicht der Dinge verstellt. Doch was verstellt eigentlich Hennig den Blick auf die Zusammenhänge? Man wird den Verdacht nicht ganz los, dass Hennig so brilliant gegen die "Verbreiter anti-touristischer Haltungen" ins Feld zieht, um nicht ganz banal sagen zu müssen: Das Reisen ist schön, hört endlich auf, etwas dagegen einzuwenden! Dass Reisen schön ist, hat ja wohl noch niemand bezweifelt. Neu – geradezu revolutionär – wäre allerdings, dass sich die Probleme dadurch lösen lassen, dass man sie wortgewandt vom Tisch fegt.
Insel Verlag, Frankfurt am Main 1997, 228 Seiten, Fr. 33.-, ISBN 3-458-16841-9