Victor Manuel Vital, genannt „El Frente“, siebzehn Jahre alt und kriminell, war von einem Beamten der Polizei von Buenos Aires erschossen worden, als er sich in einer Hütte unter den Tisch geflüchtet hatte und schrie, man solle nicht schiessen, er werde sich ergeben.
Schon als Dreizehnjähriger hatte er zusammen mit anderen „pibes chorros“, klauenden Kids, bewaffnete Überfälle verübt und war in der Siedlung schnell berühmt geworden wegen seiner Verwegenheit, vor allem aber wegen seiner „Ganovenehre“ und weil er – wie einst Robin Hood – seine Beute an die Bedürftigen verteilte. So erhielt etwa sein Raubzug auf den Lastwagen eines Grossverteilers von Milchprodukten „Kultstatus“, versorgte „El Frente“ doch die ganze Siedlung bis hin in die Gefängnisse mit feinsten Käsesorten, Sauermilch und Sachen, welche die Kinder nie haben konnten. Denn er war überzeugt, dass Kinder Joghurt essen sollten.
Nach seinem gewaltsamen Tod verfestigte sich der Mythos um seine Person. An seinem Grab versammeln sich Gruppen von Kids in exklusiver Sportbekleidung und galaktischen Turnschuhen, um mit „El Frente“ einen Joint zu rauchen und ihm Opfergaben zu bringen, glauben sie doch fest, dass „El Frentes“ Geist sie vor den Kugeln ihrer Feinde beschützt.
Aus dem Stoff hätte der argentinische Journalist Cristian Alarcón eine simple „Robin Hood-Geschichte“ verfassen können; er hätte, wie er selber sagt, einfach klassischen Enthüllungsjournalismus betreiben und die korrupten Polizeischwadronen an den Pranger stellen können. Stattdessen liess er sich in zweijähriger Recherchierarbeit auf die vielschichtigen Realitäten dieser Armensiedlungen im Vorortgürtel von Buenos Aires ein, die unmittelbar an ein wohlhabendes Viertel angrenzen – die „verfluchte Nachbarschaft von Hunger und Überfluss“, wo fremdes Hab und Gut zum Greifen nahe scheint, aber auch Leben und Sterben nahe beieinander liegen und Zwanzigjährige schon als Veteranen gelten.
Mit viel Geduld gelang es ihm, ein Stück weit das Vertrauen von Vitals Freunden und Familie zu gewinnen, an ihrem Alltag teilzuhaben, ihre Erinnerungen an „El Frente“ und ihre eigenen Geschichten zu erfahren. Entstanden ist eine literarische Reportage voller Respekt für die Menschen, die zugleich begreifbar macht, weshalb „El Frente“ zum Mythos wurde. Denn sein Ehrenkodex, seine eigentümliche Ordnung, Frauen und Kinder im Viertel zu verteidigen, ihnen Schutz vor Verrätern und brutaler Polizeigewalt zu bieten, ist mit der Wirtschaftsentwicklung Argentiniens, welche die Kluft zwischen Arm und Reich immer weiter aufriss, rasant verlorengegangen. Am Ende seiner zweijährigen Recherchen sieht Alarcón die nachfolgende Generation der Kids vollgestopft mit Pillen oder Klebstoff für ihre nächste Dosis wahllos Händler, Mütter und andere Kids des Viertels überfallen.
Für sein Buch mit dem schönen Originaltitel „Cuande me muera quiero que me toquen Cumbia“ – „Wenn ich sterbe, spielt eine Cumbia“ – wurde Cristian Alarcón 2005 mit dem Samuel-Chavkin-Preis für integren Journalismus ausgezeichnet.
Rotpunktverlag Zürich 2006, 220 Seiten, SFr. 34.-, Euro 19.80, ISBN 978-3-85869-325-9