Dai Sijie: Muo und der Pirol im Käfig. Roman
(Le complexe de Di, 2003. Aus dem Französischen von Giò Waeckerlin Induni.)
Piper Verlag, München/Zürich, 2004
390 S.; Fr 34,90; € 20,50
ISBN 3-49204624-X
Muo hat Glupschaugen, trägt eine schlecht sitzende Brille und ist ein naiver, unscheinbarer Mann Anfang vierzig. Aber er rühmt sich, der erste Psychoanalytiker Chinas zu sein. Als enthusiastischer Anhänger Lacans und Freuds befasst Muo sich vor allem mit dem Deuten von Träumen. Mit Freuds Theorien löst er auch sexuelle Fragen; eigene Liebeserfahrungen hat der schüchterne Psychiater nicht, nur seine Phantasien. Nach jahrelangem Aufenthalt in Frankreich ist Muo nach China zurückgekehrt, um seine grosse (platonische) Liebe, „Vulkan des Alten Mondes“, zu retten. Sie hat westlichen Medien Bilder von Folterpraktiken in China zugespielt und wartet nun im Gefängnis auf ihre Verurteilung durch den allmächtigen Richter Di. Muo versucht, die Dinge mit dem Richter auf eine durchaus übliche finanzielle Weise zu regeln. Aber der Richter hat schon genügend Bestechungsgelder gescheffelt und möchte lieber eine Jungfrau zum Vernaschen. Damit beginnen Muos Schwierigkeiten, und er stolpert bei seiner Suche nach einer willigen Jungfrau von einem Abenteuer ins nächste. Er wird betrogen, ausgeraubt und geschlagen. Um mit eventuellen Kandidatinnen Kontakt zu bekommen, fährt er schliesslich als Traumdeuter mit dem Fahrrad übers Land. Doch er scheitert kläglich, denn die Lehren Lacans und Freuds sind seinen Landsleuten unverständlich, Gefühle zu offenbaren und zu verbalisieren ist ihnen wesensfremd. Sie haben ihre eigene Art, Probleme zu lösen. Deshalb wird Muo mit falschen Träumen zum Narren gehalten und kann sich nur durch Flucht vor der liebestollen „Mrs. Thatcher“, der strengen Polizei-Vorsteherin des Marktes für Dienstmädchen, retten. Auch die Vermittlung einer vierzigjährigen jungfräulichen Witwe an Richter Di – sie ist Balsameuse in einem Bestattungsinstitut – misslingt auf makabre Weise. Die Kulturrevolution und andere Schrecknisse hatte er früher überstanden, aber mit seinen europäischen psychoanalytischen Ansätzen scheint er der chinesischen Lebensweise nicht mehr gewachsen zu sein.
„Muo und der Pirol im Käfig“ ist ein amüsant erzählter Roman, der sich bis ins Groteske steigert. Mit viel Ironie wird auf politische Gegebenheiten und Missstände angespielt und eingegangen. Köstlich schildert Dai Sijie die absonderlichen Abenteuer des verklemmten Antihelden Muo und seine amourösen Verstrickungen. In vielen kleinen Nebengeschichten entsteht ein detailreiches, spezielles Bild Chinas und der Mentalität seiner Menschen.
Elke Müller
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