Etwas läuft schief: Fast die Hälfte der Lebensraumtypen und ein Drittel der bekannten Pflanzen- und Tierarten sind bedroht. Es wird weiter gebaut, was das Zeug hält, Böden werden versiegelt und die Landwirtschaft intensiv betrieben. Heute reichen ProNatura, Bird Life, der Schweizer Heimatschutz und die Stiftung Landschaftsschutz Schweiz zusammen mit unterstützenden Organisationen die "Biodiversitätsinitiative" und die "Landschaftsinitiative" ein. Um dereinst qualifiziert über diese Initiativen abstimmen zu können, lohnt sich die Lektüre von Werner Bätzings "Das Landleben".

    Bätzing geht systematisch der Frage nach, woran die Stadt- und Landentwicklung krankt und wie es besser laufen könnte. Er beschreibt, wie sich über die Jahrtausende die Beziehungen zwischen Stadt und Land veränderten, welche technischen Errungenschaften und politischen Entscheide darüber bestimmten, ob das Landleben eher auf- oder abgewertet wurde und welche sozialen und kulturellen Konsequenzen dies hatte. Die Entwicklungen, die Bätzing so vielschichtig nachzeichnet, wären Stoff für eine Historienfilmserie.

    Aufgrund seiner Analyse entwirft Bätzing fünf Szenarien, die unterschiedlichen Perspektiven folgen, und alle in die Sackgasse führen: Aus neoliberaler Perspektive oder der Perspektive "weiter wie gehabt" steht das Landleben auf verlorenem Posten. Schwierig wird es auch bei einer Wirtschaftskrise oder der Verteuerung des Ölpreises. Dabei würden zwar kleine regionale Netzwerke gestärkt, aber es gingen viele Arbeitsplätze verloren. Auch die Idee, durch vertikalen Kulturanbau die Städte in die Ernährungssouveränität zu führen und das Land verwildern zu lassen, ist gemäss Bätzing zum einen Utopie und würde zum andern zu einem an Arten ärmeren Land führen. Eine verkehrs- und internettechnisch stärkere Anbindung an die Stadt würde die Verstädterung und Zersiedelung begünstigen. 

    Ein sechstes Szenario für Stadt und Land ist zukunftsfähig, erfordert aber einen tiefgreifenden Wandel in Gesellschaft, Wirtschaft und Politik: Gemeinden und aufgrund neu gedachter Raumstrukturen zusammenhängende Landschaften werden gestärkt in ihrer selbstbestimmten Entwicklung von regionalen Wirtschaftsnetzwerken und kulturellen Identitäten. Innovative dezentrale Infrastrukturen für Energie, Mobilität, Gesundheitsversorgung, Bildung und Kultur werden gefördert. Diese Leitideen müssen für jedes Land neu austariert und ausformuliert werden. In der Schweiz sind die "Biodiversitätsinitiativen" und die "Landschaftsinitiativen" erste Ansätze dazu. 

    "Das Landleben" lädt uns ein, den Blick von den Bildschirmen weg und auf die Lebensräume um uns herum zu werfen und vermittelt das Wissen und die Analyse, die helfen, das, was uns wichtig ist, besser zu schützen. 

    Werner Bätzing: Das Landleben. Geschichte und Zukunft einer gefährdeten Lebensform. C.H. Beck Verlag, München 2020, 302 Seiten, CHF 39.90, EUR 26.00, ISBN 978-3-406-74825-7 

    Werner Bätzing

    Bätzing hat das für die Analyse des Landlebens und für seine Vision notwendige Wissen über sein ganzes Leben aufgebaut: Er wuchs erst in einem Dorf und dann in einer Kleinstadt auf. Er studierte einige Semester Theologie und Philosophie, brach nach dem ersten theologischen Examen ab und absolvierte eine Buchhändlerlehre. Mehrere Jahre arbeitete er in verschiedenen Buchhandlungen und Verlagen. Nach einem Zweitstudium in Geographie und Philosophie in Berlin nahm er eine Assistenzstelle an der Uni Bern an, wo er promovierte und habilitierte. Ein Jahr lehrte er als Gastprofessor an der Uni Wien, danach wurde er ans Institut für Geographie der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg berufen und lehrte und forschte dort fast zwei Jahrzehnte bis zu seiner Emeritierung 2014. Er entwickelte dabei eine "integrative" Perspektive, bei der er das Wechselspiel zwischen der Art des Wirtschaftens, der gesellschaftlichen Entwicklung und der Umwelt und ihrer Raumordnung und politischen Gestaltung in den verschiedenen Landschaftstypen Stadt, Agglomeration, Peripherie und Landwirtschaftszonen darstellt und einordnet.