
Das Mass menschlicher Entwicklung: Bhutan und das Bruttosozialglück
Bhutan, nie kolonisiertes Königreich im Himalaya, etwas kleiner als die Schweiz, hat rund 700’000 Einwohner. Die Zahl der vor allem aus Nepal stammenden Immigranten und Gastarbeiter ohne bhutanische Staatsangehörigkeit wird auf 400’000 geschätzt. Dieses Land ist Heimat eines ungewöhnlichen "Exportschlagers": Bald nach seiner Krönung 1974 verblüffte der vierte König von Bhutan, Jigme Singye Wangchuk (im Amt bis 2006) mit einer neuen Maxime für die Entwicklung seines Landes, das damals noch eher mittelalterlich anmutete und von der Weltwirtschaft isoliert war. Der König postulierte den Vorrang der Vermehrung des "Bruttosozialglücks" für die Gesamtheit seiner Untertanen vor der Vermehrung des "Bruttosozialprodukts". Auch sonst sticht dieser Monarch hervor: Er führte das Land in die parlamentarische konstitutionelle Monarchie, dankte mit 52 Jahren zugunsten seines Sohnes ab und setzte durch, dass künftige Könige vom Parlament abgewählt werden können und wie jeder Beamte mit 65 Jahren in den Ruhestand treten müssen.
Das aus den ersten demokratischen Wahlen im März 2008 hervorgegangene Parlament verabschiedete im Juni 2008 als erste Amtshandlung eine Verfassung. In Artikel 9 ist die Steigerung des "Bruttosozialglücks" als Staatsauftrag verankert. Danach ist die zentrale Aufgabe des Staates, diejenigen Bedingungen zu fördern, die das Streben nach „Bruttosozialglück“ ermöglichen – jedoch nicht, den Bürgern und Bürgerinnen zu verordnen, was Glück ist und wie sie glücklich zu sein hätten. In reale Politik übersetzt bedeutet dies: einerseits Förderung von Erhalt und Wachsen der persönlichen Zufriedenheit und Gelassenheit, Geborgenheit in der Familie, Spiritualität, Religion, von kultureller Identität und gesunder Umwelt. Andererseits Massnahmen, die den materiellen Wohlstand mehren. Letzteres durchaus über eine Steigerung des "Bruttosozialprodukts" zur Entwicklung des Landes. Dies ist aber nicht Selbst- oder Hauptzweck, es dient vor allen nicht dem Fetisch Wachstum, dem steigenden Konsum um jeden Preis wie in den westlichen Wirtschaftsmodellen, die auch den meisten Entwicklungsländern übergestülpt werden. Der Kern des bhutanischen Konzepts ist vielmehr das Gleichgewicht von nicht-ökonomischen und ökonomischen Zielen der Entwicklung unter Vorrang des "Bruttosozialglücks".
Das geschieht über die sogenannten "vier Säulen": Nachhaltige und gerechte sozio-ökonomische Entwicklung; Erhaltung der Umwelt; Bewahrung und Förderung der Kultur; gute Regierungsführung (good governance). Letzterer wird grösste Bedeutung beigemessen, denn ohne sie können die anderen Ziele des Bruttosozialglücks nicht realisiert werden. Um die notwendigen Indikatoren für das Erreichen dieses Staatsziels zu definieren, wurde das Volk in einer Fragebogenaktion zu den neun wichtigsten Teilgebieten befragt, die für die individuelle Lebenszufriedenheit von Bedeutung sind: 1) seelisches Wohlbefinden, 2) eigene Gesundheit, 3) eigene Bildung, 4) Verhältnis Arbeitszeit zu Freizeit, 5) kulturelle Eingebundenheit und Bedeutung der Tradition, 6) Bewertung der Regierungsarbeit, 7) Gemeinschafts- und Familienleben, 8) Bewertung der Umweltsituation, 9) Lebensstandard und Einkommen. Die statistischen Indikatoren sollen evidenzbegründete Politikentscheidungen ermöglichen. Zur Umsetzung hat Premierminister Thinley eine Art Super-Ministerium eingesetzt, die „Bruttosozialglück- Kommission“. Sie überprüft alle Gesetzesvorhaben und die Massnahmen der Ministerien auf ihre Vereinbarkeit mit der Maxime.
König Jigme war seinerzeit klar, dass die Modernisierung seines Landes unvermeidlich ist. Sie sollte aber nicht allein über die westlichen Entwicklungsmodelle der Mehrung des materiellen Wohlstands um jeden Preis angestrebt werden, sondern nur über eine Verknüpfung zweier Säulen: einerseits des spirituellen Lebens auf der Basis der religiösen Tradition und der Kultur, andererseits eines gemässigten, angepassten wirtschaftlichen Wachstums mit Anhebung des Lebensstandards. Die Mehrung des Brutto- sozialprodukts hat dabei eine wichtige, aber dienende Rolle zu spielen.
Gesucht: Die neue Masseinheit für eine gelingende Gesellschaft
Die Stiglitz-KommissionIm Februar 2008 beauftragte der französische Staatspräsident Nicolas Sarkozy den Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz eine Kommission zu bilden, die drei Aufgaben hatte: Die Grenzen des Bruttonationaleinkommens als statistisches Mass für wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt zu identifizieren, zusätzliche Indikatoren zur Messung sozialen Fortschritts vorzuschlagen und die Machbarkeit alternativer Messinstrumente zu untersuchen. Zu den Erkenntnissen gehört die Notwendigkeit eines Perspektivwechsels: Weg von der ökonomischen Produktion hin zu menschlichem Wohlergehen. Dabei ist menschliches Wohlergehen multidimensional, neben Einkommen spielen Gesundheit, Bildung, Umwelt, die soziale und politische Ordnung eine Rolle. Nicht-marktbezogene Aktivitäten sollten stärker berücksichtigt werden. Einkommen und Konsum der Haushalte, so das Ergebnis der Stiglitz-Kommission, sollten stärker in den Blick genommen werden als die Produktionsausgaben einer Volkswirtschaft, die Verteilung von Einkommen, Konsum und Vermögen dürfe nicht vernachlässigt werden.
www.stiglitz-sen-fitoussi.fr;
Die EU-Kommission: GDP and beyondReicht das Bruttonationaleinkommen als Massstab für Wohlstand oder benötigen wir mehr? Diese Frage stellte sich die EU-Kommission und die Antwort lautete: Wir benötigen mehr. Fünf Vorschläge enthält eine 2009 veröffentlichte Mitteilung der Kommission, wie die Messung des Wohlstandes durch den Indikator Bruttonationaleinkommen künftig erweitert werden sollte. Erstens soll ein umfassender Umweltindex (wie Klimawandel, Artenvielfalt, Ressourcenverbrauch) sowie ein Index für Lebensqualität und Wohlergehen erstellt werden. Zweitens sollen die Daten in „Beinahe-Echtzeit“ zur Verfügung stehen, um politische Entscheidungen besser auf aktuelle Entwicklungen abstimmen zu können. Drittens sollte eine genauere Berichterstattung über Verteilung und Ungleichheiten erfolgen. Viertens sollte ein europäischer Anzeiger für eine nachhaltige Entwicklung erarbeitet werden und schliesslich sollen fünftens ökologische und soziale Anliegen in die volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen einbezogen werden. Damit soll erreicht werden, Indikatoren bereitzustellen, die wirklich das leisten können, was die Menschen von ihnen erwarten, die also den Fortschritt bei der nachhaltigen Verwirklichung der sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Ziele messen.
www.beyond-gdp.eu;

Weitere Informationen: Evangelischer Entwicklungsdienst www.eed.de; Verein Pro Bhutan e.V.: www.proBhutan.com; Bruttsosozialglück: www.grosshappiness.com; Regierungsseite Bhutans: www.gnhc.gov.bt ;