Rita Schiavi, Sie sind soeben von einer Uno-Konferenz über Migration heimgekommen. Waren die 359 toten Bootsflüchtlinge vor Lampedusa dort ein Thema?
Rita Schiavi: Ja, natürlich. Viele Voten bezogen sich darauf. Das Entsetzen war gross. Es gab auch eine Schweigeminute für die Opfer.
Ist das mehr als Heuchelei? Gleichzeitig schottet sich die EU weiter ab. Sie steckt noch mehr Geld in die Aufrüstung an den Süd- und Ostgrenzen zur Abwehr von Flüchtlingen. Stichwort Frontex, Eurosur, Drohnen, Grenzüberwachung …
Das stimmt. Diese Politik richtet sich gegen jene Flüchtlinge, die Europa nicht will. Es ist aber klar, dass diese Abwehrpolitik der EU keine Zukunft hat. Man kann das Mittelmeer nicht aufmauern. Migration lässt sich nicht stoppen. Zudem brauchen die reichen europäischen Länder Arbeitskräfte: 70 bis 80 Prozent aller Migration ist Arbeitsmigration. Deshalb müssen wir dafür sorgen, dass es sichere Wege gibt, damit Katastrophen wie jene von Lampedusa nicht mehr passieren.
Massengrab Mittelmeer: Über 300 Flüchtlinge starben am 3. Oktober bei der Bootskatastrophe vor der italienischen Insel Lampedusa. Kaum jemand spricht von den mindestens 20’000 Flüchtlingen, die in den letzten 25 Jahren im Mittelmeer beim Versuch umkamen, von Afrika nach Europa zu gelangen. Diese Zahl stammt vom Beobachter Gabriele del Grande. Der Italiener dokumentiert auf seiner Website minutiös das Massensterben an der EU-Aussengrenze.
Qatar: Grundlgegende Menschenrechte werden auch im Wüstenstaat Qatar mit Füssen getreten, wo Tausende asiatischer Wanderarbeiter unter haarsträubenden Bedingungen für die Fussball-WM 2022 bauen. Als die WM-Sklavenarbeit am Migrationsdialog in New York zur Sprache kam, stand der Minister aus Qatar auf und sagte, wer hohe Temperaturen nicht ertrage, müsse halt nicht nach Qatar kommen.
Migrationsministerin Simonetta Sommaruga hat jetzt zum Kampf gegen die internationalen Schlepperbanden aufgerufen. Doch die sind ja nur die Kehrseite der Überwachung und Aufrüstung des Nordens gegen den Süden.
Der Kampf gegen Schlepper ist zwar notwendig, löst aber das Grundproblem nicht. Auch die Migrationspartnerschaften, welche die Schweiz mit einigen Ländern abgeschlossen hat, sind nur ein Tropfen auf den heissen Stein. Zudem sind sie oft einseitig auf den Vorteil der Schweiz ausgerichtet.
Ein bitterer Tropfen also?
Die Verträge mit Nigeria oder Tunesien bewirken vor allem, dass die Schweiz die Leute leichter ausschaffen kann. Wir erkaufen die Rücknahme von Flüchtlingen mit ein wenig Entwicklungshilfe. Das ist zudem Geld, das nur wenigen zugute kommt. Besser machen es die Philippinen. Sie sorgen dafür, dass in den bilateralen Verträgen die Sozialversicherungsrechte der Migrantinnen gewahrt werden. Die Filipinas, die in den Spitälern oder in der Pflege arbeiten, erhalten ihre Renten auch zu Hause, wenn sie heimkehren. Von solchen Renten leben ganze Dörfer!
Im Fall Kosovo hat der Bund die Auszahlung von Renten aber gestoppt. Angeblich wegen verbreiteter Missbräuche.
Das ist ein Skandal, denn die Folgen für die Betroffenen sind verheerend. Der Stop der Rentenauszahlungen nach Kosovo war politisch motiviert, ein Zückerchen an die SVP. Es gibt viele andere Länder, die ebenfalls mit Kontrollproblemen konfrontiert sind, die aber die Renten trotzdem ausrichten. Die Leidtragenden sind die rund 300’000 Kosovaren, die nicht eingebürgert oder bereits wieder heimgereist sind und nun keine Rente erhalten. Wer Kosovo aus der Armut helfen will, muss sicherstellen, dass die Leute ihre Renten bekommen.
Kann man den Betroffenen wirklich ihre erworbenen Rentenansprüche vorenthalten?
Das Bundesgericht hat Klagen von Betroffenen leider abgewiesen. Wir fordern seit drei Jahren, dass der Bundesrat ein neues Sozialversicherungsabkommen mit Kosovo verhandelt. Schon mehrmals waren wir bei SP-Bundesrat Alain Berset. Mit etwas gutem Willen wäre eine Übergangslösung möglich. Ich werde deswegen auch bei Bundesrätin Sommaruga intervenieren.
Zurück zur Uno-Konferenz in New York. Bewirkt so eine Konferenz überhaupt etwas?
Seit der letzten solchen Konferenz 2006 ist einiges geschehen. Vor allem ist klar geworden, dass die Migration nicht ab-, sondern zunimmt. Heute sind 232 Millionen Menschen unterwegs, vor zwei Jahrzehnten waren es noch 154 Millionen. Globale Wanderströme sind eine Tatsache. Daher braucht es auch eine gemeinsame Politik der Staatengemeinschaft. Klar ist aber auch, dass die Migration anders bewertet werden muss.
Wie denn?
Migration wird in vielen Ländern als Problem angesehen. In Wahrheit aber fördert sie die Entwicklung, und zwar sowohl in den Ursprungs- wie auch in den Zielländern. Die Schweiz wäre ohne Migration nicht denkbar. Wer arbeitet auf dem Bau, in der Pflege? Vorwiegend Leute, die eingewandert sind. Ohne sie würde unsere Infrastruktur nicht funktionieren. Die Geldüberweisungen in die Heimat sind ein grosser Motor der Wirtschaftsentwicklung in den Heimatländern. Sie bewegen mehr als jede Entwicklungshilfe. Wir müssen endlich den positiven Beitrag sehen, den die Migration an die globale Entwicklung leistet.
Aber bei uns läuft es derzeit doch genau umgekehrt: Die SVP setzt sich mit ihrer Fremdenfeindlichkeit mehr und mehr durch. Angst und Abwehr dominieren die Diskussion. Was wollen Sie dagegen tun?
Ein Bewusstseinswandel ist im Gang, aber er braucht Zeit. Auf der Ebene der Uno ist jedenfalls erkannt, dass es im alten Stil nicht weitergehen kann.
Die Uno hat im Jahr 2006 den ersten «High Level Dialogue on Migration and Development» durchgeführt. Dieser endete ohne gemeinsame Erklärung. Am 3./4. Oktober 2013 fand nun in New York der zweite solche Dialog statt, an dem sich Regierungsvertreter und Organisationen der Zivilgesellschaft und Gewerkschaften austauschten. Für die Unia nahm Geschäftsleitungsmitglied Rita Schiavi daran teil.