Demonstrieren für Gaza
Morgen Samstag findet in Bern eine Demonstration statt: "Gaza: Stopp der militärischen Aggression – für die Aufhebung der Blockade". Ich werde mit vielen aufgewühlten arabischen Menschen, die in der Schweiz leben, und hoffentlich zahlreichen Einheimischen auf der Strasse sein.
Ein Grund für meine Teilnahme ist ein Ausflug auf den Niesen vor zehn Jahren. Wie Kinder freuten sich die Gäste aus Gaza über den Schnee im Spätherbst. Sie warfen Schneebälle und trauten sich in ihren Sommerschuhen kaum auf die vereisten Wege. Dann kehrten sie nach Hause zurück.
Doch ihre eigentliche Heimat ist nicht Gaza. Ihre Wurzeln liegen im heutigen Israel, aus dem ihre Familien bei der Staatsgründung vertrieben wurden. Viele leben in einem Dauerprovisorium in unterdessen 60-jährigen Flüchtlingslagern. Ihre Rückreise aus der Schweiz in den Gazastreifen führte sie von einer Katastrophe stetig zur nächst grösseren. Sie sprachen schon damals von ihrer Rückkehr ins Gefängnis.
Eine entscheidende Stufe der Eskalation war die Nicht-Anerkennung der Wahlen von 2006 durch den Westen, Wahlen, die man so lautstark gefordert hatte und als beeindruckend demokratisch bezeichnen musste. Israel, die USA und die EU boykottierten und isolierten darauf die Wahlsiegerin Hamas. Angeblich, denn mit der Blockade nahm man die Bevölkerung Gazas in völkerrechtswidriger Weise kollektiv in Geiselhaft, damit sie ihre Führung unter Druck setzte.
Auf diese Weise brach die Wirtschaft praktisch zusammen. Zum Gefühl der Demütigung trugen die brutalen Machtkämpfe zwischen den von der internationalen Politik instrumentalisierten, unfähigen palästinensischen Parteien bei-
Bei aller Ohnmacht geht es darum, Druck zu erzeugen
Der asymmetrische Krieg der letzten zwei Wochen, in dem kein Leben mehr geschützt ist, ist die Fortsetzung des vorher jahrelang schleichenden Krieges. Es ist zynische Propaganda, wenn der israelische Botschafter oder der Vertreter der Gesellschaft Schweiz-Israel in diesen Tagen von einem einzigen Kriegsgrund sprechen, von den Raketen der Hamas, die auch in meinen Augen in Verachtung von konkreten Menschen und des Völkerrechts abgeschossen werden.
Diese die israelische Regierungspolitik rechtfertigenden Leute verschwenden in ihrem Stellungnahmen kaum einen Gedanken an die Menschen auf der anderen Seite. An jene Familien, deren Verletzte mit Wissen der israelischen Behörden in halb zerstörten Häusern tagelang auf medizinische Hilfe warten mussten, weil sie sich nicht trauten, das Haus zu verlassen. Dies berichtet die israelische Journalistin Amira Hass, die lange Zeit in Gaza lebte.
Sie schreibt in diesen Tagen auch über rohe Gewalt in Teilen der Hamas und darüber, wie froh sie ist, dass ihre Eltern nicht mehr am Leben sind und die israelische Bombardierung der Zivilbevölkerung miterleben müssen. Ihr Vermächtnis, nach dem Überleben des Holocausts, war es, nie mehr tatenlos zuzuschauen, wenn Menschenrechte mit den Füssen getreten werden.
Amira Hass ist für mich ein weiterer Grund, morgen auf der Strasse zu demonstrieren. Bei aller Ohnmacht geht es darum, Druck zu erzeugen – Druck auch auf die Schweizer Regierung: Wieso spricht Bundesrätin Calmy-Rey jetzt nicht mehr vom Dialog mit der Hamas, nachdem die Schweiz sich in dieser Frage mutig gegen die EU gestellt hatte? Wann kommt der Entscheid, der militärischen Kooperation mit Israel ein Ende zu setzen, damit sich das Szenario des letzten Jahres nicht wiederholt, als der Chef der schweizerischen Luftwaffe unmittelbar nach einem tödlichen Luftangriff auf Gaza seine guten Kollegen in Israel besuchte?
Am Sonntag werde ich in den Bergen sein. Und an die Gäste aus Gaza denken. Sie haben seit Tagen keinen Strom, kein Mehr, keine Milch, zu wenig Medikamente. Tagtäglich Angst, Terror, Krieg. Wieso haben wir das Recht aufs Baden in ihrem Mittelmeer und sie kein Recht auf Leben, auf Gesundheit, auf Bewegungsfreiheit, auf Frieden? Und nicht die allergeringste Aussicht auf einen weiteren Moment im Schnee auf dem Niesen.
Matthias Hui arbeitet auf der Fachstelle Ökumene, Mission und Entwicklungszusammenarbeit (OeME) der Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn und betreut in dieser Funktion die gemeinsam mit dem arbeitskreis tourismus & entwicklung durchgeführte Sensibilisierungsarbeit "für einen fairen Austausch mit Palästina – auch im Tourismus!"
Matthias Hui lebte vier Jahre lang im Westjordanland, Palästina, als Ko-Leiter eines Rehabilitationszentrums. Während mehrer Jahre betreute er für Heks in der Schweiz das ökumenische Menschenrechtsbeobachtungs-Programm in Palästina und Israel EAPPI.
Wiedergabe des Artikels vom 9. Januar 2009 in Der Bund mit freundlicher Genehmigung des Autors. Dieser Artikel gibt allein die persönliche Meinung des Autors wieder.
Gesamtschweizerische Demonstration Sa, 10. Januar 2009, 14.30 Uhr, Schützenmatte Bern