Den Neustart gestalten
In Deutschland befinden sich gegenwärtig immer noch drei Viertel der Mitarbeitenden in Hotels, Gaststätten und bei Reiseveranstaltern in Kurzarbeit. Im März und April waren es im Gastgewerbe sogar über 95 Prozent. Global ist die Lage noch dramatischer: In den meisten Partnerländern von Brot für die Welt ist Kurzarbeitergeld nicht existent, so dass die Menschen, die vom Tourismus leben, wirtschaftlich unmittelbar vor dem Nichts stehen. Da wo es staatliche Schutzschirme gibt, greifen sie nur für direkte MitarbeiterInnen der Unternehmen, nicht aber für Tourguides, Rikschafahrer oder Strandverkäuferinnen. Global gesehen befinden sich 50 Prozent aller touristischen Jobs im informellen Sektor. Besonders prekär ist die Situation der vielen Millionen ausländischen Saisonarbeitskräfte im Tourismus – darunter allein etwa eine Million Beschäftigte auf Kreuzfahrtschiffen. Ihnen fehlen die finanziellen Mittel zur Rückkehr in ihre Heimatländer oder die Grenzübergänge sind verschlossen. Diese ArbeiterInnen sitzen weiterhin ohne Einkommen im Ausland fest, während den Familien zu Hause nicht nur das Familiengehalt, sondern auch der Vater oder die Mutter fehlt.
Nehmen statt Geben
Doch es sind nicht nur fehlende soziale Sicherungssysteme unter denen die Menschen leiden, sondern auch verantwortungslose Geschäftspraktiken. Der TUI-Konzern, der im April einen 1,8 Milliarden Euro schweren staatlich garantierten Kredit aus deutschen Steuergeldern erhielt, hatte noch im Februar über 300 Millionen Euro Dividenden ausgeschüttet. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Weltgesundheitsorganisation bereits seit fast zwei Wochen den globalen Gesundheitsnotstand verkündet und Fluggesellschaften bereits ihr Streckennetz ausgedünnt. Mittlerweile ist ein Stellenabbau von 8000 Mitarbeiterinnen bei TUI beschlossen und das Unternehmen hat nachträglich Zahlungen für Reisen eingefroren, die bereits von Januar bis März stattgefunden hatten. Betroffen sind unter anderem Hotels und ihre MitarbeiterInnen in Thailand, der Karibik und Spanien.
Kleinunternehmen und Entwicklungsländer-Spezialisten besonders getroffen
Während es den meisten Generalisten, also den Grosskonzernen im massentouristischen Segment, dank staatlicher Hilfe, durch globale Querfinanzierungsstrukturen und Steuervermeidungsstrategien gelingen wird, irgendwie durch die Krise zu kommen, stehen kleine, spezialisierte Tourismusanbieter mit dem Rücken zur Wand. Ein Spezialreiseveranstalter für Wanderreisen in Peru oder Kambodscha kann nicht einfach Aktivurlaub in den Alpen anbieten. Ein Safarispezialist aus Ostafrika verfügt nicht über Ferienwohnungen auf Sylt mit denen er, dank boomendem Inlandstourismus – zumindest notdürftig – seine laufenden Kosten querfinanzieren könnte.
Viele der Spezialisten sind Kleinstunternehmen oder Mittelständler. Wenn sie wegbrechen, stehen nicht nur ihre Dienstleister in allen Teilen der Welt vor dem Ruin, sondern es verschwindet auch das Angebot der persönlichen Reise, die Begegnungen auf Augenhöhe ermöglicht. Der Branche insgesamt drohen die Nachhaltigkeitspioniere wegzubrechen, die auch in den letzten Jahren schon vorgemacht haben, dass verantwortungsvolles wirtschaften im Tourismus möglich ist und damit die Reisediscounter vor sich hergetrieben haben.
Die Krise meistern – für eine neue Ökonomie des Reisens
Eines vorweg: Jeder Arbeitsplatzverlust im Tourismus ist dramatisch und Menschen müssen vor Armut und Unsicherheit geschützt werden. Doch das ist nicht nur das Gebot der Corona-Krise, sondern wurde zu oft auch davor ignoriert. Der Bundesverband der Tourismuswirtschaft BTW lobbyiert in der Corona-Krise für umfangreiche Rettungspakete mit dem Argument, dass 62 Prozent der Tourismusbeschäftigten im Niedriglohnbereich arbeiten, während es in anderen Wirtschaftssektoren im Schnitt nur 18 Prozent seien. Mit dieser Argumentation legt er offen, dass es ihm nicht um eine dauerhafte Verbesserung der Situation der Beschäftigten im Tourismus geht, sondern um die Zementierung eines Status Quo, dessen Gewinne auf niedrigen Löhnen beruht. Eine konzertierte Aktion der Branche, um die Gehaltsstruktur im Tourismus zu verbessern oder die weit verbreitete Umgehung des Mindestlohns nachhaltig in den Griff zu bekommen, hingegen gab es seitens der grossen Reiseverbände nie – auch nicht in den vergangenen Boomjahren des Tourismus.
Eine neue Wertschätzung des Reisens – preislich und in Sachen Nachhaltigkeit und Qualität – ist dringend nötig. Es ist dramatisch zu sehen, dass im Tourismus- und Gastgewerbe mehrheitlich Firmen arbeiten, deren Rücklagen nicht ausreichen, um einen zweimonatigen wirtschaftlichen Totalausfall aus eigenen Mitteln zu überbrücken. Dies ist Folge eines ruinösen Preiskampfes und einer jahrelangen Kommunikationsstrategie des „Sie haben es sich verdient“. Mit der von Lobbyisten des Massentourismus immer wieder ins Feld geführten „Demokratisierung des Reisens“ hat das allerdings nichts zu tun! Denn während Gutverdiener lieber drei als zwei Mal im Jahr in den Urlaub fahren, gibt es in Deutschland immer noch zu viele Kinder, deren Familien sich nicht einmal die Klassenfahrt leisten können.
Konjunkturpakete nutzen – die Transformation des Tourismus gestalten
Begrenzte staatliche Mittel für Hilfspakete, Rettungsschirme und Konjunkturprogramme machen es notwendig, Prioritäten zu setzen. Es stimmt, dass die Tourismuswirtschaft von den Lockdowns und globalen Reisewarnungen besonders stark betroffen ist, so dass kurzfristige Hilfen notwendig sind. Doch nicht jedes touristische Geschäftsmodell muss erhalten bleiben – die Krise und die damit verbundenen Staatshilfen bieten die Chance, einige Fehlentwicklungen der letzten Jahre zu korrigieren – dazu gehören Reiseprodukte wie Kreuzfahrten oder Wochenend-Städtetrips per Flugzeug, aber auch Managementkonzepte wie Outsourcing.
Wirtschaftshilfen müssen mittelfristig an eine Abkehr von der Logik der Gewinnmaximierung gebunden sein, der zu Lasten der Umwelt und der schwächsten Glieder der Wertschöpfungskette geht. Der parlamentarische Prozess um das längst überfällige Lieferkettengesetz darf gerade jetzt nicht unter die Räder kommen, denn dieses Gesetz würde ermöglichen, dass Arbeitsrechte in Hotels und Partizipationsmöglichkeiten der Menschen in den Urlaubsorten auch gegenüber international tätigen Reiseveranstaltern gestärkt werden. Die Verkehrswende, die im Nah- und Mittelstreckenbereich zur deutlichen Reduzierung der negativen Klimabilanz führen kann, ist notwendiger denn je und ein aktiver Beitrag zur (Klima-)Krisenprävention. Während der französische Staat bei der Air France-Rettung hier steuernd eingreift und beispielsweise Kurzstreckenflüge aus dem Programm nimmt, nutzt die Bundesregierung diesen Einfluss bei der Lufthansa nicht: die neun Milliarden Euro Staatshilfen sind daher nur ein teures Rettungs- nicht aber ein notwendiges Zukunftspaket.
Für globale Unterstützung – gegen Isolationismus
Wichtig ist auch den globalisierten Verflechtungen Rechnung zu tragen, die in Zeiten von Corona noch sichtbarer geworden sind, statt neuen Isolationismus zu propagieren: Mittel der Entwicklungszusammenarbeit stehen nicht in Konkurrenz zu Konjunkturpaketen, sondern sind eine notwendige Ergänzung: Die Finanzierung von Bildungsprogrammen, der Aufbau von Basisinfrastrukturen in Gesundheit, Verkehr und lokalen Handel, erhöht die Resilienz der lokalen Wirtschaftsstrukturen und damit ihre Krisenfestigkeit. Im Tourismus zeigt sich: Wo es neben internationalen Gästen auch nationale Nachfrage gibt, kommen Tourismusunternehmen besser durch eine Krise wie die Corona-Pandemie. Davon profitieren letztendlich auch hierzulande Reiseveranstalter und Urlauber. Wenn Reisen in Entwicklungsländer wieder möglich sind, ohne die Gefahr, dass Urlauber das Virus in fragile Gesundheitssysteme einschleppen, können Reiseveranstalter auf erhaltenen Strukturen aufbauen und damit ein qualitativ hochwertiges Reiseangebot schaffen, das globale Solidarität und Empathie für die Welt erhöht.