Der Fluch der Reisepässe: Ein Dokument bestimmt unsere persönliche Freiheit
Reisepässe sind schon komische Dinge. Obwohl nur Papier, entfalten sie eine grosse Wirkung. Sie teilen mit, ob wir aus einem Land kommen, dessen Bewohnerinnen anderswo willkommen sind oder nicht. Sie können Anlass für Misstrauen sein, und Menschen aus Ländern mit einer schlechten Reputation schämen sich oftmals, ihren Pass vorzuzeigen oder zerstören ihn, um dem Stigma zu entgehen. Handkehrum gibt es Reisepässe, die Türen öffnen – sie dokumentieren den Status jener Menschen, die das Glück hatten, in einem Land geboren zu sein, wo man heute glaubt, auf die (arme) Welt verzichten zu können. In der Vergangenheit war dem freilich nicht so. Erst die Reiselust von Menschen aus diesen selbstzufriedenen Ländern – die "Entdeckungsreisen" – weckte bei den heute Unerwünschten die Lust zu reisen und förderte die Vorstellung,dass das Bedürfnis nach einem besseren und sicheren Leben durch Reisen befriedigt werden kann.
Vom "Laissez passer" zum Pass
Und somit sind wir bei der gegenteiligen Qualität der Reisepässe gelandet: Sie können Menschen bewegen. Dies war das ursprüngliche Anliegen, als Pässe zum ersten Mal ausgestellt wurden. Ihre Träger durften "passieren" – durch Türen gehen und Grenzen überschreiten. Doch schon während des Ersten Weltkrieges wurden in Europa Reisepässe dazu verwendet die Ausreise zu verhindern. Menschen mit besonderen Fertigkeiten und Berufen sollten im eigenen Land gehalten werden. Heute sind Reisepässe grundsätzlich dafür da, Europäerinnen das Tor zur Welt zu öffnen und diese Menschen aus Afrika und anderen wirtschaftlich benachteiligten Regionen vorzuenthalten. Reisepässe besitzen eine unglaubliche Macht. Damit diese Feststellung nicht wie ein einseitiger Vorwurf an Europa klingt, sei eine bittere Information hinzugefügt: Es ist leichter für Europäerinnen sich in Afrika zu bewegen als für die Afrikaner selbst. Sie brauchen fast überall in Afrika ein Visum und Europäer weit seltener. Solidarität unter Armen scheint ein unbekannter Begriff zu sein. Somit werden Afrikaner doppelt bestraft: Sie sind weder in Europa noch in Afrika gern gesehene Gäste. Ein Schweizer kann zum Beispiel weltweit 80 Länder ohne Visum besuchen, eine Mosambikanerin hingegen nur neun, und diese befinden sich allesamt im südlichen Afrika.
Es ist deshalb kein Wunder, dass die meisten Afrikaner, die unterwegs sein wollen, auf Reisepässe ebenso pfeifen wie auf die normativen Ordnungen, welche sie aufrechterhalten und mit denen sie versuchen, Bewegung zu verhindern (oder zu steuern). Vielleicht hat sich ja die Erfahrung des Sklavenhandels als Millionen von Afrikanerinnen – ohne Reisepässe – vor allem den Atlantik überquerten im "genetischen Code" eingeschrieben. Damals genügte es, in einer Güterliste als "Mann" oder "Frau" eingetragen zu werden, um einen Beitrag zur Entwicklung von Amerika und Europa zu leisten. In gleicher Weise scheint auch die damalige Ankunft vieler Europäer in Afrika – ohne Visum – im Erbgut Europas verankert zu sein. Es genügt, handeln zu wollen, Menschen bekehren oder Erkunden und Forschen zu wollen. Warum dürfen dies Afrikaner nicht in gleicher Form in Europa tun?
Die Gründe sind eigentlich naheliegend. Reisepässe sind nicht einfach Dokumente, die Bewegung steuern. Sie sind Ausdruck der Strukturiertheit der Welt. Struktur bedeutet Regeln, Vorschriften und Kontrolle. Struktur macht aus einer natürlichen Handlung ein Politikum.
Politik und Moral
Eine natürliche Handlung wie "sich zu bewegen" wandelt sich unter diesen Bedingungen in "Migration" um. Richtet diese sich in die falsche Richtung – also nach Norden – wird sie zur problematischen Form und der Begriff "Migration" reicht nicht mehr aus. Die Rede ist von Wirtschaftsflüchtlingen, Schlepperbanden, illegaler Migration etc. Ausserdem kann Europa nicht alle aufnehmen, die Regierungen glauben sich der eigenen Gesellschaft gegenüber verpflichtet, sich gegen Überfremdung und die Untergrabung der nationalen Sitten durch Multikulturalismus einzusetzen. Dabei wird vergessen, dass die grösste Bedrohung gegen die eigenen Werte nicht von aussen – d.h. der Migration – kommt. Vielmehr st sie hausgemacht und zwar durch Inkonsistenz: unaufgefordert verkündet man überall auf der Welt, dass man die besseren ethischen Prinzipien wahrnimmt – also solche, die christliche Werte mit jenen der Aufklärung verbinden und sich in Nächstenliebe, Toleranz und menschlicher Würde niederschlagen. Wenn sich jedoch DIE Gelegenheit bietet, diese Werte auszuleben, wird nach allen möglichen Vorwänden gesucht, um deren Reichweite zu beschränken.
Dies ist keine Heuchelei sondern die Kluft zwischen Politik und Moral. Diese wird immer grösser und droht, die Welt kaputt zu machen. Immanuel Kant sinnierte über die praktische Vernunft, die den Anspruch des Menschen beschreibe, sein Handeln auf allgemeine Grundsätze zu beziehen, dieses Handeln in Bezug auf verbindliche Normen zu begründen und zu rechtfertigen. Ein Blick auf die Migrationspolitik weltweit zeigt schnell, dass die geltenden Grundsätze moralisch nicht zu begründen und schon gar nicht zu rechtfertigen sind. Politik hat immer weniger mit Moral zu tun. Es ist Handeln aus dem Bauch heraus. Unter diesen Bedingungen sind Reisepässe wahrlich komische Dinge. Sie sind es, die Xenophobie erzeugen, weil sie manche Menschen als Bedrohung kennzeichnen.
*Elísio Macamo ist Professor für Afrikastudien und Sprecher des Zentrums für Afrikastudien an der Universität Basel.