Der im Original unter dem aussagekräftigeren Titel Sangue giusto (richtiges Blut) erschiene Roman, breitet über spannende 600 Seiten die Geschichte einer italienischen Familie zwischen den 1930er Jahren und 2012 aus. Und diese Geschichte hat sehr viel mit Afrika zu tun, wie Ilária, eine etwa 40jährige Lehrerin bei ihren Nachforschungen feststellt. Anlass dazu war, dass eines Tages ein junger Äthiopier vor ihrer Türe stand, der behauptete, er sei der Enkel ihres Vaters und sie folglich seine Tante. Attilio Profeti, der Vater, unterdessen über 90 und dement, kann zu seiner Vergangenheit nicht mehr befragt werden, ihre geschiedene Mutter scheint sich nicht dafür zu interessieren. Ilária recherchiert minutiös und legt Stück um Stück die Familiengeschichte frei. Sie zeichnet ein schonungsloses Porträt der italienischen Gesellschaft anfangs des Jahrtausends und holt ein bisher kaum thematisiertes Kapitel der italienischen Geschichte ans Licht: Die Besetzung Äthiopiens durch das faschistische Italien ist von seltener Brutalität geprägt, die den Mythos der Italiener als brava gente gründlich widerlegt.

    Attilio zieht als junger Mann mit den Schwarzhemden, den faschistischen Freiwilligen, in den Abessinienfeldzug, kann sich aber aus den Kampfhandlungen heraushalten. Er arbeitet als Postzensor, dann als Mitarbeiter des Anthropologen Cipriani, der mittels der Vermessung von "Eingeborenen" die Überlegenheit der weissen Rasse über Völker, "die für die Sklaverei geboren sind", wissenschaftlich nachweisen will. Schön und selbstbezogen, weiss Attilio sich mit seinem Charme – und seinem Mangel an Mitgefühl – Schwierigkeiten immer wieder zu entziehen, die Konfrontation mit Gräueltaten wie Wasser an sich abperlen zu lassen. Er lebt in einer innigen Beziehung mit der Äthiopierin Abeba, hält es aber nicht für angemessen, seine Lebensgefährtin zu heiraten. Als schliesslich die Rassengesetze verschärft und solche Verbindungen verboten werden, lässt er Abeba fallen. Die Einbettung des – kurzen – Äthiopienabenteuers Italiens in eine umfassende Familiengeschichte macht auch den längerfristigen gesellschaftlichen Kontext nachvollziehbar: den Aufstieg der faschistischen Ideologie in Attilios Jugend, der Umgang Italiens mit der Flüchtlingskrise, die Schwierigkeit, tief verwurzelte und langlebige rassistische Vorurteile zu überwinden.

    Francesca Melandri: Alle ausser mir. Übersetzung aus dem Italienischen durch Esther Hansen. Klaus Wagenbach, Berlin 2018. 608 Seiten, CHF 39.90, EUR 26.00, ISBN 978-3-8031-3296-3

    Afrika-Bulletin, Mai 2019: Theaterschaffen in Afrika

    Dieser Beitrag erschien im aktuellen Afrika-Bulletin. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung.

    "Das Afrika-Bulletin widmet eine Ausgabe dem Theater und dies zum ersten Mal ! Für mich, die länger in Afrika lebte und dieser Kunst vielfach auch im ländlichen Raum begegnete, ist dies ziemlich erstaunlich. Zumindest in Westafrika ist Theater neben den traditionellen Ritual- und Maskenpräsentationen bei Weitem die populärste Kunst."  Editorial, Susy Greuter