2066: Entgegen den Berechnungen, die 50 Jahre vorher auf der Internationalen Tourismusbörse (ITB) in Berlin veröffentlicht wurden, ist das Reisen aus touristischen Gründen nahezu eingestellt. Damals waren bei Pauschal- und Flugreisen noch satte Zuwächse versprochen worden und Wirtschaftsexperten gingen noch von satten Gewinnen bei den Fluggesellschaften aus, neue noch größere Jets mit bis zu eintausend Sitzplätzen wurden konstruiert. Der Flughafen Berlin International, der 2019 in Betrieb genommen wurde, war mit der Eröffnung schon am Rande seiner Kapazitäten angelangt. Aber schon in der Mitte der 20er Jahre des 21. Jahrhunderts gab es dramatische Einbrüche.
Die Reisenden blieben auf unerklärlicher Weise zu Hause. Tourismuskritische Organisationen, die damit eine ihrer Ziele erreichten, waren verblüfft und wussten nicht so recht auf den neuen Trend zu reagieren. Schnell wurden Studien umgewidmet, die sich eigentlich mit dem Tourismus in "Empfängerländern" auseinandersetzen und nun die "Reisemüdigkeit der Tourismus-Entsendeländer" zum Thema hatten.

"Das tue ich mir nicht mehr an!"

Die Urlauber wollten einfach nicht mehr mitmachen in den überfüllten und überteuerten Destinationen ihre schönsten Wochen des Jahres zu verbringen. So war im Jahr 2019 in Istanbul eine Tourismusabgabe von 30,00 US $ pro Person eingeführt worden, um den touristischen Bereich rund um die Blaue Moschee überhaupt besuchen zu können. Der Eintritt in die weltberühmte Moschee und in die Hagia Sophia war dabei noch nicht eingerechnet. Trotzdem mussten die Besucher bis zu drei Stunden auf den Einlass in die wohl berühmtesten Sehenswürdigkeiten der Stadt am Bosporus warten – es dauerte einfach, bis sich der Touristen-Bandwurm durch die Gebäude gewunden hatte. Immer häufiger reagierten die Touristinnen und Touristen ungehalten: "Stunden anstehen, um dann in fünf Minuten durch den Innenbereich der Moschee gescheucht zu werden und dann das gleiche noch einmal bei der Hagia Sophia und beim Topkapi-Palast, das tue ich mir nicht mehr an. Da bleibe ich lieber zu Hause."
Zusätzlich war in vielen Zielen eine latente Terrorgefahr vorhanden. Und der Reiz des Fremden war in den minutiös vorgeplanten Urlauben längst vorbei. Was sollte noch der Besuch eines landesüblichen Restaurant bei einem Kambodscha-Urlaub, wenn in jeder größeren Stadt in den USA und in Europa längst kambodschanische und thailändische Restaurants in Original-Ausstattung vorhanden waren.

Alles virtuell zu haben

Die CO2-Debatte im Tourismus hatte sich spätestens dann erledigt, als alle weltweiten TOP-Sehenswürdigkeiten im 4-D-Format zu besuchen waren. Entweder von zuhause aus im 4-D-Simulator bei dem die ganze Familie mit entsprechenden Brillen und sonstigem Zubehör ausgestattet waren oder im 4-D-Zentrum, in das als Reisegruppe eingecheckt werden kann.
Eintauchen in die Tempelwelt von Angkor Wat, kein Problem. Nach dem virtuellen Aufstieg auf einen der höchsten Tempel, blickt der Besucher über die gesamte Tempelanlage und hält den Atem an. Er sieht Warane vorbei schleichen und im dichten Dschungel verschwinden, riecht den Duft des tropischen Urwaldes und hört Vögel und andere Tiere schreien.
Organisationen, die sich um die Zukunft des Welterbes sorgen, beklagen den Rückgang des Tourismus und befürchten, dass sich die Natur die Tempelanlagen ganz zurückholt. Deshalb fordern sie von den großen Betreibern der 4-D-Anlagen wie googleworld Lizenzgebühren, um die Tempel instand halten zu können.

Die neue Auszeit im Alltag

Wenn sie das virtuelle Angkor Wat verlassen haben, essen die daheimgebliebenen Touristen im Restaurant um die Ecke ein kambodschanisches Reisgericht. Oder sie treten nach dem türkischen Tee virtuell in die Gebetsstunde der Blauen Moschee ein. Ein Schauer durchfährt die Besucher, wenn über die von der Außenwelt völlig abschließenden Kopfhörer der Muezzin zum Gebet ruft. Schade allerdings, dass jemand in der Reisegruppe bei der Geruchswahl den Knopf "Fußschweiß" gewählt hat und jetzt alle unter dem sich ausbreitenden Duft von Schweißfüssen zu leiden haben. Nach 45 Minuten in dem 4-D-Animator einigt man sich darauf, dass heute keine weitere Sehenswürdigkeit besichtigt wird, sondern es zum Ausruhen in den eigenen Garten geht.
All das hatte die Reiseindustrie beim 50-jährigen Bestehen der ITB in Berlin nicht geahnt. Kein Wunder, dass die weltgrößte Flugzeugflotte der 2022 fusionierten deutschen-Golfstaaten-Airline Ethihansa im Jahr 2035 80 Prozent ihrer Flugzeuge mangels Passagiere stilllegen musste. Altkanzlerin Angela Merkel schwenkte damals auf den neuen Trend des Nichtreisens um und gab in einem ihrer raren Interviews in einer Talkshow zu bedenken: "Natürlich freue ich mich, dass der Airbus A 420 vor ein paar Jahren einen so guten Absatz erzielte, aber als Privatperson, die mit der Luftverschmutzung zu kämpfen hat und als ehemalige Umweltministerin muss ich sagen: "Jedes verkaufte und später stillgelegte Flugzeug ist ein gutes Flugzeug".

Die Reiseindustrie hat sich selbst ihr Grab geschaufelt

Das Thema Reisen hat sich mit den D4-Anlagen so gut wie erledigt, obwohl der Tourismus einmal die größte Industrie der Welt war. Nur noch ein kleines Grüppchen scheint überhaupt noch Gefallen daran zu finden. Die in 90er Jahren Geborenen, selbst in der Zwischenzeit zur Rentnern geworden, beleben die kleine Nische des Alternativtourismus. Sie reisen auf abenteuerliche Weise durch die Welt, hatten sie doch in ihrer Jugend noch die inzwischen fast ausgestorbene Art des Individualtourismus kennengelernt. Sie überwinden mit lokalen Transportmitteln große Entfernungen, besteigen Frachtschiffe und -flugzeuge, um dann staunend vor der zugewucherten Stadt Machu Picchu zu stehen und mit den wenigen verbliebenen anderen Touristinnen und Touristen über vergangene Zeiten zu diskutieren – Reiseexperten unter sich. Schon regen sich die ersten Veranstalter, die wieder auf den Spuren der Alternativtouristen erste Pauschalreisen anbieten und das Rad dreht sich von neuem. Aber die Reiseindustrie tut sich schwer, da doch die Generation nach den 90ern bereits mit all den 4D-Eindrücken mit 360 Grad-Bildschirmen mit Geruchs- und Geräuschmaschinen aufgewachsen war.
Kaum zu glauben, dass sich die Reiseindustrie selbst ihr "Grab geschaufelt "hat. Zur 50. ITB im Jahr 2016 wurde erstmalig die virtuelle Realität auf die Messe gebracht. Mit VR-Brillen konnten damals touristische Ziele bestaunt werden und am Stand des Bundeslandes Bayern bestaunten die Besucher einen 360 Grad-Film über eine der wichtigsten Urlaubsregionen Deutschlands. Das war erst der Anfang der virtuellen Realität, die dann nach und nach den Tourismus zurückdrängte, so dass die ITB ihren 100. Geburtstag nur noch mit einigen alternativen Messeständen in kleinstem Rahmen feiern konnte.
*Jürgen Hammelehle ist Referatsleiter bei Brot für die Welt – Evangelischer Entwicklungsdienst