Der Kopftuchzwerg
Der Schreibwettbewerb „Die Basler Eule“ wurde 1993 von der Basler Jugendschriftenkommission und dem Basler Buchhändler- und Verlegerverein gegründet. Auch dieses Jahr waren wieder Jugendliche und Kinder zwischen 10 und 18 Jahren aus der Region Basel dazu aufgerufen, sich fantasievolle Geschichten auszudenken. Das Thema des 15. Wettbewerbs der „Basler Eule“ hiess „1:0 für Dich und mich“. Mit dem gleichen Titel ist im November die Publikation erschienen, mit welcher die 19 besten der insgesamt 126 Texte der Jugendlichen dem Publikum vorgestellt werden.
Am 23.11.2008 beehrte die Jury der "Basler Eule" Larissa Leontyna Wyss Abramski in der Gruppe der Jahrgänge 1995-1997 mit dem Hauptpreis. Und zwar für ihre berührende Geschichte über Aisha, die wir hier wiedergeben*
Aishas Herz raste. Es raste jedes Mal, wenn sie durch die Eingangshalle einer neuen Schule schritt. Aisha war es gewohnt, von einer Schule in die andere geschickt zu werden. Ihr Vater arbeitete für eine Firma, die in aller Welt Fabrikgebäude besass. Von ihrer Heimat Algerien aus wurde die Familie nach Frankreich und schliesslich nach Genf versetzt. Der Vater reparierte Maschinen, ein Job, der gerade so gut bezahlt wurde, dass es zum Überleben reichte.
Aisha rückte ihr kariertes Kopftuch zurecht, atmete tief durch und begab sich auf den Weg zur 9c. Sie dachte nach: Wie würde man sie behandeln? Als sie vor dem Klassenzimmer ankam, wischte sie sich ihre schweissigen Hände an den Kleidern ab und trat ein. Fünfundzwanzig Köpfe wandten sich ihr zu. Einige blickten sie unverwandt an, einige aber auch neugierig. Die Lehrerin erhob sich von ihrem Stuhl und kam auf sie zu. «Ah, Aisha!», sagte sie. Sie hatte eine warme, freundliche Stimme, die man in ihrem harten, strengen Gesicht gar nicht vermutete. «Ich habe dich schon erwartet.» Wieder an die Klasse gewandt, sagte sie: «Das ist Aisha Saaman, und ihr werdet sie von jetzt an in eurer Klasse willkommen heissen. Du kannst dich hier vorne neben Stacy setzen. Sie ist Engländerin, ihr werdet euch bestimmt prima verstehen.» Scheu, und immer noch mit klopfendem Herzen, setzte sich Aisha. Stacy hatte ein arrogantes Gesicht und kalte braune Augen. Sie verzog das Gesicht und rückte mit ihrem Stuhl einige Zentimeter nach links. Erschrocken über Stacys Reaktion senkte Aisha schnell den Blick auf das Pult. Die Lehrerin hiess Madame Boncourt. Sie unterrichtete Geschichte und erzählte gerade von Genf und der UNO. Es schien Aisha, als wäre sie eine der wenigen, die sich aufmerksam Notizen machten, während die anderen nur auf das erlösende Schrillen der Pausenglocke warteten.
Aisha war mit dem Tag zufrieden. Der Unterricht an der neuen Schule war gut und die Lehrer nett und freundlich. Aishas Familie wohnte in einer kleinen Vierzimmerwohnung im zweiten Stock eines hellblau gestrichenen Altbaus. Der Duft von frischem Couscous zog durch das ganze Haus. Aisha öffnete die Wohnungstüre, ihre Mutter Kerima trat in den engen Flur. Sie hatte eine rundliche Figur, grosse grüne Augen und lange schwarze Zöpfe, die ihr bis zu den Hüften reichten. Im Wohnzimmer dudelte der Fernseher. Die Wohnung war in einer Mischung aus alter algerischer Tradition und modernem Stil eingerichtet. Im Wohnzimmer hingen handgemachte wunderschöne Teppiche an den Wänden, und in der Mitte des Raumes standen zwei kunstvoll bestickte Diwane um einen kleinen ovalen Glastisch, auf dem der Couscous vor sich hin dampfte. Die Wohnung machte einen gepflegten Eindruck. Aishas Vater Said kam herein. «Wie ist die neue Schule?», erkundigte er sich mit einem Lächeln. «Gut, die Lehrer sind sehr nett», antwortete sie. «Und die Schüler?», fragte Said. Aisha zögerte, denn abgesehen davon, dass die meisten in den Schulstunden Kaugummi gekaut und sie in den Pausen ignoriert hatten, hatte sich eigentlich nichts getan. Niemand war zu ihr gekommen und hatte ein Gespräch über Hobbys, Herkunft oder Schulstoff angefangen. Und Aisha hatte sich in der Mittagspause allein mit ihrem Essen an einen freien Tisch gesetzt. Also antwortete sie einfach: «Ach, der Unterricht nahm so viel Zeit ein, dass ich keine Gelegenheit für Gespräche hatte.»
Am nächsten Tag hatten sie Französisch, und Madame Boncourt, die auch dieses Fach unterrichtete, erklärte Grammatik. Jemand liess heimlich einen Brief durch die Klasse gehen. Genau in dem Moment, als Aisha ihn an die Empfängerin Stacy weitergeben wollte, drehte sich Madame Boncourt um und sah mit ihren Argusaugen den Brief in Aishas Hand. «Ah!», sagte sie laut, «einige halten es wohl für nötig, während des Unterrichts Briefe zu schreiben. Aisha, gib ihn mir doch bitte.» Madame Boncourt entfaltete den Zettel und fing an zu lesen: «Liebe Stacy, wir treffen uns um 14 Uhr hinter der Schule. Lukas.» Der Spott in ihrer Stimme war nicht zu überhören. Madame Boncourt gab Stacy den Brief mit einem Lächeln. Und als wäre das nicht schon demütigend genug, fing die Klasse auch noch laut an zu lachen. Stacy bekam einen hochroten Kopf und starrte Aisha wütend an. «Na warte!», zischte sie, «dafür wirst du büssen!» «Entschuldige», stotterte Aisha, aber Stacy wandte sich feindselig ab und zerriss den Zettel in kleine Stücke.
Seit Wochen versuchte Aisha, Stacy aus dem Weg zu gehen. Sie wusste, dass mit Stacy nicht zu spassen war, und dass sie und ihre Clique ihr das Leben schwer machen würden. Denn niemand demütigte Stacy, die Anführerin, ungestraft.
Einmal verteilte Christine, eine Deutsche, an ihrem Geburtstag Schinkenbrötchen. Aisha lehnte mit rotem Kopf ab, mit der Erklärung, kein Schweinefleisch essen zu dürfen. Alle starrten sie an, als wäre sie ein Alien und käme von einer weit entfernten Galaxie. Hinten hörte sie jemanden flüstern: «Ach, diese Moslems. Ich sitze nicht gern neben Kopftuchzwergen.» Sie war sicher, dass es Stacy war.
Im Sportunterricht hatte Aisha ihr schönstes Kopftuch zerrissen in der Tasche vorgefunden, mit einem Zettel, auf dem DRECKIGES MOSLEMMÄDCHEN! geschrieben stand.
Aisha war schockiert. Dass die Schüler so weit gehen würden, hätte sie nicht erwartet. Aisha kam immer trauriger und niedergeschlagener nach Hause, sodass Said und Kerima anfingen, sich Sorgen zu machen. «Aisha», fragte Kerima sie eines Abends, «geht es dir in der Schule nicht gut?» Aisha dachte nach. Sollte sie Kerima alles erzählen? Doch dann würde sie einfach in eine neue Schule gesteckt werden, und alles würde von vorne anfangen. «Doch, doch», antwortete sie, «ich habe einfach öfter Kopfschmerzen.»
Als Aisha am nächsten Tag während der Morgenpause im Schulhof stand, rammte jemand sie von hinten, und sie fiel der Länge nach in eine Wasserpfütze. Als sie aufstand, waren ihre Kleider nass und verschmutzt. Gelächter ertönte hinter ihr, und als sie sich umdrehte, sah sie Stacy und ihre Clique. Sie krümmten sich vor Lachen. «Hey, Kopftuchzwerg», sagte Stacy laut, «das tut mir aber leid. Geh doch neue Kleider holen.» Zufrieden zog Stacy mit ihrer Clique Richtung Schultor. Aisha lief in den Flur, wo sich ihr Schliessfach befand. Aisha schloss es auf und suchte ihre Ersatzkleider. Sie waren nicht mehr da. Hinter ihr stand ein blondes Mädchen namens Antoinette und fragte: «Brauchst du vielleicht Hilfe?» Aisha, überrascht von dieser unerwarteten Freundlichkeit, drehte sich um. «Ja», sagte sie, «ich habe meine Ersatzkleidung verloren.» Antoinette lächelte. «Du hast sie nicht verloren, stimmts? Ich habe in letzter Zeit beobachtet, wie Stacy dich fertig macht. Warum wehrst du dich nicht?», wollte Antoinette wissen. «Meinst du, das sollte ich?», fragte Aisha zögernd. «Ja!», sagte Antoinette spontan. «Wenn du dich wehrst, hört sie auf, dich zu plagen. Dann bereitet es ihr keinen Spass mehr. Komm, ich habe noch einige Kleider in meinem Fach.» Aisha folgte ihr, glücklich, endlich jemanden gefunden zu haben, der sie nicht sofort unfreundlich behandelte.
Aisha und Antoinette freundeten sich immer enger an. Wenn nun Stacy Aisha schikanierte, war es für sie nicht mehr so schlimm, denn sie wusste, dass sie eine wunderbare Freundin hatte, die zu ihr stand und sie verteidigte.
Aisha lief die Strasse hinauf, sie hatte in der Bibliothek die Zeit vergessen. Der Abend war schon kühl. Sie schritt durch eine dunkle Nebengasse, als sich plötzlich eine Hand auf ihre Schulter legte. «He, du Moslemzwerg!», sagte Stacy boshaft. Neben ihr standen zwei Mädchen aus ihrer Clique. Aisha dachte an Antoinettes Worte: «Sei mutig, wehr dich!» Aisha wollte einfach weitergehen, da packte Stacy sie an ihrem Mantelkragen, zog sie zurück und presste sie an die Glastür eines Schuhmachers. «Du bist schwach», sagte Aisha so ruhig wie möglich. «Du bist nur stark in der Gruppe, aber allein bist du nichts. Du bist zu klein, um alleine gegen jemanden anzutreten, du musst immer nach deiner Clique rufen. Einfach bemitleidenswert.» Stacys Gesicht verfinsterte sich, und ihr Atem ging schneller. Die zwei Mädchen aus Stacys Clique wurden langsam unruhig. Stacy machte eine blitzschnelle Bewegung und stiess Aisha mit aller Wucht in die Scheibe. Aisha wurde es schwarz vor Augen, ein heftiger Schmerz durchzuckte sie. Sie sah Sterne, und dann war da plötzlich nichts mehr.
Aisha hörte leises Stimmengemurmel. Sie versuchte sich aufzusetzen, doch eine warme Hand drückte sie sanft wieder nach unten. «Bleib liegen, du sollst dich noch ein wenig ausruhen.» Wo war sie? Sie öffnete die Augen und blickte in die besorgten Augen von Kerima, die sich über sie gebeugt hatte. Schlagartig kamen alle Ereignisse in ihrem Gedächtnis wieder hoch. «Ein Mann fand dich bewusstlos in einer Seitengasse liegend. Er hat sofort einen Krankenwagen gerufen. Wir haben uns unglaubliche Sorgen gemacht, als du um zehn Uhr noch nicht zu Hause warst.» Kerima hatte Tränen in den Augen. «Was ist eigentlich passiert?» Aisha wollte die Wahrheit sagen, doch hatte sie Angst, furchtbare Angst, dass Stacy sie deswegen nochmal zusammenschlagen würde. «Ich weiss es nicht», sagte sie, «ich kann mich nicht mehr erinnern.»
Antoinette lief die Strasse entlang. Sie klopfte an die Tür der Nummer 36, und jemand rief: «Ich komme!» Es war Stacy. Als sie Antoinette erblickte, wurde sie blass. «Kann ich mit dir sprechen?», fragte Antoinette. «Komm rein», sagte Stacy. Antoinette setzte sich aufs Sofa. «Du musst sagen, dass du es warst», sagte sie sofort. Sie wollte nicht um den heissen Brei herumreden. «Was?», sagte Stacy plump, irritiert von Antoinettes Direktheit. «Du musst zu deinen Eltern gehen und ihnen die Wahrheit über dich und Aisha erzählen!» Antoinette brüllte beinahe. «Sie hat Schnittwunden im
Gesicht und an den Händen. Wenn du es nicht deinen Eltern erzählst …» Antoinette sprach nicht weiter, wortlos nahm sie ihre Jacke, ging ohne ein Abschiedswort zur Tür hinaus.
Stacy hörte, wie die Tür aufging und ihre Eltern von der Arbeit zurückkamen. «Hello Stacy», sagte ihre Mutter fröhlich auf Englisch. «Hallo Mama», sagte Stacy ernst, «ich muss mit euch reden.» Überrascht von Stacys Ernsthaftigkeit, setzten sich ihre Eltern aufs Sofa. Stacy atmete tief durch. «Ihr wisst sicher von Aisha, dem muslimischen Mädchen aus meiner Klasse? Sie liegt verletzt im Krankenhaus.» «Ja», sagte ihr Vater, «ich habe gehört, dass die Polizei nach den Tätern sucht.» «Ich war es», sagte Stacy mit Tränen in den Augen. Ihre Eltern starrten sie fassungslos an.
Es klopfte an Aishas Zimmertür. Die Tür öffnete sich, und herein kam, mit einem Strauss Blumen und einer Schachtel Pralinen ausstaffiert, Stacy. Aisha stutzte. Stacys Gesicht sah nicht mehr arrogant aus, und ihre braunen Augen waren nicht mehr kalt, sondern traurig. Stacy trat unsicher von einem Fuss auf den andern. «Ich weiss, dass das, was ich getan habe, schwer zu verzeihen ist. Antoinette hat mit mir gesprochen und mich davon überzeugt, ehrlich zu sein und zu meiner Tat zu stehen. Ich habe eine Verwarnung von der Schulleitung bekommen. Auch muss ich an meinen freien Nachmittagen ein halbes Jahr lang in einem Altersheim Sozialdienst leisten.» Stacy hatte so schnell gesprochen, dass sie erst mal tief einatmen musste. «Hier, die sind für dich», sagte sie und überreichte Aisha unsicher den Strauss Blumen und die Pralinen. Aisha lächelte. So gut das eben ging mit ihren immer noch geschwollenen Lippen. «Versprich mir etwas», sagte sie. Stacy nickte. «Komm mich mal besuchen.» Stacy blickte Aisha überrascht an. Da lag dieses Mädchen, das von ihr schikaniert und gedemütigt worden war und bat sie, sie mal zu besuchen. Sie blickte kleinlaut auf ihre Uhr. «Also dann», sagte sie, «auf Wiedersehen.» Aisha reichte ihr die Hand: «Auf Wiedersehen.» Stacy stand auf, öffnete die Tür und schloss sie leise wieder.
*Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung des Verlags sowie der Autorin und ihrer Eltern. Der Text ist der folgenden Publikation entnommen:
Die Basler Eule (Hrsg.): 1:0 für dich und mich. Geschichten von Jugendlichen, Christoph Merian Verlag, Basel 2008, 160 Seiten; SFr. 16.80, Euro 10.-; ISBN 978-3-85616-405-8; www.merianverlag.ch; www.baslereule.ch;