Vom 20. bis 22. Juni 2012 soll an der Rio+20-Konferenz auf höchster politischer Ebene das Engagement für die nachhaltige Entwicklung erneuert und verstärkt werden. Im Hinblick auf diesen Erdgipfel kritisiert Anita Pleumarom die gängigen Politiken zu Tourismus, Nachhaltigkeit und Armutsbekämpfung, die auf Wachstum mit "menschlichem Antlitz" oder auf "grüne Wirtschaft" setzen. Die deutsche Geografin und Politologin koordiniert seit Jahren das tourism investigation & monitoring team (tim-team), eine thailändische Nichtregierungsorganisation, die sich mit Entwicklung und Folgen des Tourismus beschäftigt

Basel, 19.06.2012, akte/ In den letzten zwei Jahrzehnten sind Tourismusunternehmer und ihre Verbände, aber auch Regierungen, internationale Organisationen und auch gewisse Nichtregierungsorganisationen nicht müde geworden, den Tourismus als Allheilmittel gegen Armut anzupreisen. Der internationale Tourismus könne, so wird behauptet, benachteiligten Bevölkerungen wirtschaftliche Vorteile und Entwicklung bringen und zur Erreichung der Millenniumsziele beitragen, wenn er nur verantwortlich und nachhaltig genug sei. So wird angenommen, dass Tourismus Arbeitsplätze schaffe und das Angebot an Erwerbsmöglichkeiten erweitere. Der Einkommenszuwachs führe auch zu höheren Steuereinnahmen, mit denen Entwicklungsländer Bildung, Gesundheitseinrichtungen und die Infrastrukturentwicklung finanzieren könnten. Tourismus habe ausserdem eine Katalysatorwirkung, indem er die Wirtschaft in vielen Bereichen ankurble, sei es bei den Infrastrukturleistungen wie Energie und Telekommunikation, bei Landwirtschaft, Baugewerbe und Handwerk, sei es im gesamten Dienstleistungssektor. Die UNWTO möchte, dass die Staatsführer aller Länder dem Tourismussektor hohe Priorität einräumen und kritisiert, dass sich viel zu wenige Entwicklungsländer im Rahmen des Allgemeinen Abkommens über den Handel mit Dienstleistungen (GATS) zur Förderung des Nachhaltigen Tourismus als Mittel zur Armutsbekämpfung verpflichtet hätten.
Im Hinblick auf Rio+20 hat das UN Umweltprogramm (Unep) einen Policybericht zum Konferenzthema "Grüne Wirtschaft im Kontext von nachhaltiger Entwicklung und Armutsbekämpfung" herausgegeben. Ein Kapitel widmet sich der Frage, wie mit Einsatz von 0,2 Prozent des weltweiten Bruttoinlandproduktes (135 Milliarden Dollar) der Tourismus zwischen 2011 und 2050 stetig weiter wachsen und dabei seine Nachhaltigkeit verbessern könnte.
Unbewiesene Behauptungen
Angesichts der vielen öffentlichen Gelder, die schon jetzt mit dem Argument, Tourismus helfe Armut bekämpfen, in die Tourismusförderung investiert werden, würde man davon ausgehen, diese Annahme sei hinreichend durch Studien belegt. Anita Pleumarom verfolgt den offiziellen und den kritischen Diskurs zu Tourismus seit vielen Jahren. In ihrer Analyse zeigt sie auf, dass die Wissenschaft diese Annahme keineswegs bestätigt; sie wird im Gegenteil durch viele Studien und noch mehr Fallbeispiele widerlegt. Nicht genug, dass der Tourismus das koloniale Bild des "reichen" Touristen zementiert, der vom "armen" Diener der Lokalbevölkerung verwöhnt wird. Dieser soll dafür auch noch bezahlen: Steuergelder werden statt für Schulen, Gesundheit und Bewässerungssysteme für den Bau abgehobener Luxuswelten und überdimensionierter Infrastrukturen für deren Erschliessung und Versorgung ausgegeben. Mit den bekannten Folgen: Menschen werden von ihrem Land vertrieben, Wasser und andere Ressourcen werden den Kleinbauern entzogen und den Tourismusunternehmen zur Verfügung gestellt, Tourismuserschliessungen ziehen ArbeitsmigrantInnen an, die sich zu Dumpingpreisen anstellen lassen müssen, die Lebenshaltungskosten verteuern sich.
Was ist Armut?
Armut ist nach neoliberalem Verständnis hauptsächlich eine Frage von Jobs und Einkommen. Doch obwohl es ihnen oft an Jobs und Geld fehlt, verstehen sich ländliche Gemeinschaften, Fischer und Urvölker meist nicht als arm, solange sie ihre Kultur bewahren und ihre natürliche Umgebung mit den Land-, Wasser- und den biologischen Ressourcen nutzen können. Sobald sie aber ihr Land und ihre Lebensgrundlagen verlieren, verschlechtern sich ihre Lebensbedingungen radikal. Pleumarom zeigt auf, wie das rasche und unkontrollierte Tourismuswachstum überall auf der Welt die Armut massiv vergrössert. Dabei räumt sie mit der Vorstellung auf, die ländliche Bevölkerung könne ja die touristischen Zentren mit Lebensmitteln beliefern: Aufgrund des Landverlustes sei sie je länger je mehr selbst auf Einkäufe angewiesen.
"Politiker und Entwicklungsexpertinnen, einschliesslich jener der Vereinten Nationen und der Weltbank, wissen ganz genau, dass der Tourismus, egal ob konventionell oder in neuen Formen – kein Schlüssel zu nachhaltiger Entwicklung und Armutsbekämpfung ist. Die Bewegung, die sich für ’neuen› – verantwortlichen, nachhaltigen, pro-poor – Tourismus einsetzt – schafft eine spekulative Realität, welche die Aufmerksamkeit von den echten Anliegen ablenkt und startet eine Menge Programme und Projekte auf der Basis von Illusionen." Pleumarom plädiert dafür, die Tourismuspolitik wieder zu einem Teil der Debatte darüber zu machen, wie das Weltwirtschaftssystem zu reformieren sei, damit auch die Länder des globalen Südens ihre Probleme lösen und eine sozial und ökologisch nachhaltige Entwicklung auf den Weg bringen können. Dabei gelte es, von den Menschen an der Basis auszugehen und deren Rechte zu achten und zu schützen. Ob in einem solchen Entwicklungsweg noch Platz ist für Tourismus und in welchem Umfang, müssten die Einheimischen aufgrund der lokalen Bedingungen und ihrer Bedürfnisse entscheiden.
Eine erfrischend radikale Analyse, welche die Akteure beim Namen nennt, einen guten Überblick über Handlungsansätze und deren Erfolg gibt und Meinungen von Entwicklungsfachleuten aus dem Süden Raum gibt.
Anita Pleumarom: The Politics of Tourism, Poverty Reduction and Sustainable Development. Bangkok Mai 2012.56 Seiten.
Erhältlich auf Third World Network: www.twnshop.com


Unter dem Titel "Armutsminderung durch Tourismus?" hat auch respect, die österreichische Tourismusfachstelle der Naturfreunde internationale, kürzlich ein Diskussionspapier veröffentlicht, dass unter www.nfi.at  zum Download zur Verfügung steht.


Der arbeitskreis tourismus & entwicklung hat in den letzten Jahren immer wieder zum Zusammenhang zwischen Tourismus und Armut Stellung genommen:

  • Reisen gegen die Armut? – Nicht weiter frei zu Tisch! (Juli 2008)
  • Kann der Tourismus wirklich zur Überwindung der Armut beitragen? (September 2007)
  • Letzter Aufruf für Durban: NGOs aus Nord und Süd fordern eine offene Debatte über Klimagerechtigkeit im Tourismus (November 2011)
  • Tourismus und Klima: Wer bremst die Irrfahrt in die Katastrophe? (Oktober 2009)