«Der Richter las der Chefin sogar das Gesetz vor»
Heidi Hächler liebt ihren Job und ist schon lange in der Branche. 2005 lässt sie sich von der Hans Meier Tourist AG in Zürich anheuern. In diesem kleinen Familienunternehmen hatte sie schon früher gearbeitet. Doch nun kommt ihr einiges merkwürdig vor: "Ich hatte nur einen mündlichen Arbeitsvertrag und arbeitete auf Abruf", erzählt sie. Jeweils einen Monat im Voraus erhält sie den Einsatzplan für die nächsten Touren. Es kann auch mal sein, dass eine Tour kurzfristig ausfällt.
Den Lohn erhält sie nach jeder Tour bar von der Firmeninhaberin ausbezahlt. Im Vergleich zum Lohn von Berufskolleginnen ist es wenig. "Teilweise erhielt ich nach einer ganztägigen Tour bloss 200 Franken. Ich kenne aber Reiseleiterinnen, die bis zu 600 Franken pro Tag verdienen."
Kein Vorsorgekonto
Heidi Hächler tritt der Unia bei und informiert sich über ihre Rechte. Darauf fordert sie von der Chefin Feriengeld und BVG-Beiträge. Trotz mehrmaligen Reklamationen habe sie jedoch nur Ausflüchte gehört. Hächler glaubt, bei Swiss Life versichert zu sein. Als sie dort nachfragt, erfährt sie, dass kein Vorsorgekonto auf ihren Namen laute. Da platzt ihr der Kragen. Im Februar 2009 verklagt sie die Firmeninhaberin beim Zürcher Arbeitsgericht. Sie verlangt rund 11 000 Franken Feriengeld und die Nachzahlung der BVG-Beiträge für die letzten vier Jahre. Mit Erfolg: In einem Vergleich erhält sie rund 8000 Franken Feriengeld zugesprochen. Ausserdem muss die Firma bei Swiss Life ein BVG-Konto einrichten. Sie muss die genauen Lohndaten liefern und ihren Prämienanteil einzahlen. "Der Richter hat der Chefin sogar den Gesetzesartikel vorgelesen", erinnert sich Heidi Hächler an die Verhandlung.
Kein Vertragspartner
Das Feriengeld hat sie inzwischen erhalten. Doch auf die Vorsorgebeiträge und auf ein Arbeitszeugnis wartet sie heute noch. Im vergangenen Juni hat sie abermals Klage eingereicht. Diesmal beim kantonalen Sozialversicherungsgericht. Dort ist der Fall noch hängig. Das Ergebnis ist absehbar: Die Hans Meier Tourist AG wird der Anordnung des Arbeitsgerichts nachkommen müssen. Das fragwürdige Gebaren der Firma ist kein Einzelfall. "Ich habe ähnliche Geschichten auch aus anderen Touristikunternehmen gehört", sagt Heidi Hächler. Viele Reiseleiterinnen arbeiteten auf Abruf und in gesetzwidrigen Arbeitsverhältnissen. Die meisten seien über ihre Rechte nicht im Bild. Nur wenige würden sich wehren, in der Branche liege vieles im Argen.
Tatsächlich gibt es keinen Gesamtarbeitsvertrag, dem die Reiseleiter und Stadtführerinnen unterstehen würden. Ja, es gibt nicht einmal Vertragspartner. Die Arbeitgeber, also Carunternehmen, Verkehrsvereine und Touristikfirmen, sind zwar im Dachverband Schweizer Tourismusverband (STV) zusammengeschlossen. Dieser nimmt die Interessen der miliardenschweren Branche wahr. Aber ein den ganzen Tourismus umfassender Arbeitgeberverband existiert nicht. Es gibt lediglich einzelne für die Hotellerie oder das Gastgewerbe. Die Angestellten der Reisebüros sind vorwiegend im Kaufmännischen Verband organisiert.
Heidi Hächler engagiert sich in der Association Suisse des Guides Touristiques: "Wir müssen uns noch stärker und besser organisieren, damit unser ‹Frauenberuf› endlich aus dem Schatten kommt", ist sie überzeugt.
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Berufe im Tourismus
Reiseleiter oder Stadtführerin sind vom Bund nicht anerkannte Berufe. Reglementiert sind nur Tourismus-Assistent/-in sowie Wellness-Manager/-in. Bei ihnen übernimmt der Schweizer Tourismusverband STV die Prüfungsleitung.
Lang und teuer. Die Association Suisse des Guides Touristiques (ASGT) führt Verhandlungen, damit das Bundesamt für Berufsbildung und Technologie (BBT) auch Reiseleiterinnen und Stadtführer als Berufe anerkennt. Heidi Hächler: "Ein aufwendiges Prozedere, das lange dauert und viel kostet."
Im Verein ASGT sind die rund hundert aktiven Reiseleiterinnen in der Schweiz zusammengeschlossen. Es sind praktisch ausschliesslich Frauen. Der Verein betreibt Kontaktpflege und Weiterbildung. Das gewerkschaftliche Bewusstsein ist noch wenig ausgebildet. Die Berufsanerkennung ist das grosse Ziel des Vereins.
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Dieser Beitrag erschien in work, der Zeitung der Gewerkschaften, vom 22.10.2010. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung