Basel, 20.01.2011, akte/ Wir alle kennen die "Gaffer", die etwa bei einem Autounfall nichts Besseres zu tun haben, als langsam an der Unfallstelle vorbeizufahren oder gar anzuhalten, um möglichst viel von der Szenerie in sich aufzunehmen. Manchmal werden wir selbst zu ihnen. Eine Steigerung erfährt diese Lust auf Dramatik beim Dark Tourism. Dabei zeichnen sich die Reiseziele durch Naturkatastrophen, Terroranschläge oder Unglücke aus. Statt Reisekataloge zu lesen, studieren KatastrophentouristInnen die Nachrichten; statt daran mitzuwirken, eine Misere zu lindern, geht es beim Dark Tourism in erster Linie ums Zuschauen. Die Abenteuerreise mit dem zusätzlichen Realo-Kick.

Krieg und Katastrophen als Reiseattraktion
Nicht einmal die Ölkatastrophe am Golf von Mexiko war den Anhängern des Dark Tourism zu schmutzig. Während Sonnenhungrige sich von Floridas Stränden fernhielten, reisten KatastrophentouristInnen an, um die Auswirkungen der Bohrinsel-Explosion aus nächster Nähe zu bestaunen. Selbst das Haus des Österreichers Josef Fritzl, der seine Tochter jahrelang im Keller einsperrte und mit ihr sieben Kinder zeugte, taugt zum Fotomotiv. Und das kambodschanische Tourismusministerium sorgt höchstselbst dafür, dass die Reisenden Ta Mok, eine der Hauptfiguren in der Führung der Roten Khmer, nicht vergessen: In Anlong Veng, wo noch immer viele ehemalige Kader der Roten Khmer leben, eröffnete man eine so genannte Genozid-Tour. Zur Erinnerung: Während des Regimes der Guerillabewegung von 1975 bis 1979 wurden etwa zwei Millionen Menschen Opfer von Exekutionen, Hunger und Krankheiten.

Das österreichische Magazin "Faktum" trug jüngst weitere Hotspots des Dark Tourism zusammen:

– Thailand: Bald nach dem verheerenden Tsunami um Weihnachten 2004, der 230’000 Menschen das Leben kostete, bevölkerten neue TouristInnen die Strände, während um sie herum noch ein heilloses Chaos herrschte, Menschen vermisst wurden und Tote identifiziert werden mussten. Auch als im vergangenen Jahr Rothemd-Demonstranten und die Armee in Bangkok aufeinander losgingen, hielt das die KatastrophentouristInnen nicht davon ab, Schnäppchen zu jagen. Schiessereien und brennende Geschäfte sorgten offensichtlich für einen willkommenen Abenteuer-Faktor.

– Island: Der Ausbruch des Vulkans Eyjafjallajökull bescherte zwar dem Flugverkehr den Totalzusammenbruch. Doch gleichzeitig liessen sich Wagemutige von Reiseveranstaltern in die Gefahrenzone bringen. In der Tourismusregion rund um den Vulkan sanken die Preise um 20 bis 30 Prozent, was auch für KatastrophentouristInnen mit schmalerem Budget attraktiv war.

– USA: Nach dem Anschlag auf die Twin Towers vom 11. September 2001, bei dem 2’792 Menschen getötet wurden, mauserte sich "Ground Zero" in New York zum Touristenmagneten. Nicht anders war es nach dem Hurrikan "Katrina", als Schaulustige zahlreich ins zerstörte New Orleans pilgerten.


Risiko auf Staatskosten?

Dass solche Reisen aus Unwissen unternommen werden, mag heute niemand mehr so richtig glauben, werden doch die Sicherheitsrisiken in den Medien und vor allem auch in den Reisehinweisen der auswärtigen Ämter der Entsendeländer explizit erklärt. Vielmehr wählen Abenteuerlustige ihre gefährlichen Reiseziele ungeachtet aller Warnungen vor der Sicherheitslage. So reisen Schweizerinnen und Schweizer in Regionen wie Libyen, die Sahara, den Jemen oder auf die Philippinen, die offiziell als riskant eingestuft werden, – möglichst dorthin, wo sonst niemand Ferien macht. Auch über die Empfehlung, sich von kundigen einheimischen Führern begleiten zu lassen, setzen sich solche Reisenden gern hinweg. Obwohl sie die Sicherheitshinweise des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA) nicht ernst nehmen, erwarten sie, dass sie sich im Notfall auf den Staat verlassen können. Tatsächlich steigt die Tendenz zu gefährlichen Reisen: Zwischen 2001 und 2007 musste das EDA zwei bis drei Krisenfälle pro Jahr bewältigen. 2008 waren es dagegen schon 14.

Wer den Abenteuer-Realo-Kick nicht als Individualtourist erleben möchte, findet entsprechende Angebote auch auf dem Reisemarkt. Zum Beispiel beim Reiseveranstalter Babel Travel in Zug, der seinen KundInnen eine 45-tägige Reise durch Irak, Iran und Afghanistan anbietet. Der Preis von 33’000 Franken enthält zwar eine Versicherung für den Fall, dass es während der Reise zu Verletzungen durch ein Attentat kommt. Lösegeld im Fall einer Entführung ist allerdings nicht vorgesehen – hier müsste wohl die Schweizer Staatskasse einspringen.

Diese Erwartungshaltung dem Staat gegenüber ist offenbar ungebrochen, obwohl mit jeder Geiselnahme oder Repatriierungsaktion durch die Behörden die Frage in Medien und Öffentlichkeit heftiger diskutiert wird, wer für die kostspieligen Massnahmen aufzukommen hat. Die meisten Versicherungen haben ihre Konsequenzen bereits gezogen und lehnen die Haftung für Reisen in Gebiete ab, die vom EDA als gefährlich eingestuft werden.

Doch nicht nur die Heimatländer der Dark TouristInnen sollen im Notfall zu Hilfe eilen. Auch die Zielländer müssen nicht selten tief in die Staatskasse greifen, um den Schutz der ausländischen Gäste zu gewährleisten. Oft genug auch in Situationen und an Orten, wo die einheimische Bevölkerung selbst keine ausreichende Sicherheit geniesst.

Quellen:
"Schweizer Reisebüro bietet Ferien in Kriegsgebiete an", 20 Minuten, 21.12.2010, www.20minuten.ch, "Extrem-Tourismus", Faktum, 07-08/2010, "Khmer Rouge bastion turns into new tourist spot", e Turbo News, www.eturbonews.com, 23.07.2010, "Per Mausklick ins Krisengebiet", Blick am Abend, 17.09.2009, www.blickamabend.ch, eigene Recherchen

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Kathastrophentourismus aus der historischen Perspektive

Der Katastrophentourismus ist kein neues Phänomen: Schon bei der Schlacht von Waterloo 1815 schaute der Adel aus sicherer Distanz zu, und das Schlachtfeld Manassas, auf dem der Amerikanische Bürgerkrieg tobte, wurde als Sehenswürdigkeit verkauft. Zuschauen ging selbstverständlich auf eigenes Risiko.

Mit ausreichendem zeitlichem Abstand zu Katastrophen kann der Besuch von historischen Stätten Bildungscharakter haben oder gar einen wichtigen Beitrag zur Aufarbeitung leisten. So wird niemand ernsthaft eine Reise in das vom Vulkan ausgelöschte Pompeji bei Neapel oder in die von den Römern zerstörte Oasenstadt Palmyra in Syrien als pure Sensationsgier verurteilen wollen. Auch der Besuch von Konzentrationslagern sollte nicht mit Katastrophentourismus gleichgesetzt werden.