Aufbruch im Palästina-Tourismus: Eine neue breit abgestützte Initiative ruft mit einem Verhaltenskodex Reisende und einheimische Anbieter auf, Tourismus als Chance zur Öffnung und zum Austausch zu nutzen. Die Schweizerin Regula Kaufmann hat während den letzten zwei Jahren beim Begegnungsreiseveranstalter "Alternative Tourism Group" (ATG) in Palästina gearbeitet und dabei aktiv an der Entstehung des Verhaltenskodexes mitgewirkt.
Basel, 27.11.2008, akte/
Wie kam es zu diesem Verhaltenskodex für einen verantwortungsvollen Tourismus im Heiligen Land? Was bot konkret Anlass dafür?
Die Menschen in Palästina fühlen sich oft missverstanden. Sie wissen, dass sie in den Medien weltweit erwähnt werden und dies nicht immer zu ihrem Vorteil. Kommunikation im Nahostkonflikt spielt eine äusserst wichtige Rolle. Ähnlich verhält es sich mit dem Tourismus: Seit Generationen sind Palästina und das heutige Israel ein beliebtes Reiseziel, vor allem für Pilgerreisende. Seit der Gründung Israels und später der Besetzung des Westjordanlandes und des Gazastreifens durch Israel findet der Tourismus jedoch hauptsächlich unter Ausschluss der palästinensischen Bevölkerung statt. Die touristische Infrastruktur wurde in erster Linie in jüdisch-israelischen Gebieten entwickelt. Für Palästinenser und Palästinenserinnen gibt es viele Hindernisse, am Tourismus in gleichem Masse teilzuhaben. So war es zum Beispiel für eine Palästinenserin oder einen Palästinenser lange fast unmöglich, eine Lizenz als TouristenführerIn zu erhalten. Aus diesen Gründen haben Reisende, die den ausgetrampelten Touristenpfaden folgen, nur wenig Kontakt mit der palästinensischen Bevölkerung und verpassen so auch viel Schönes. Denn auch in den palästinensischen Gebieten gibt es viel zu entdecken, und die palästinensisch-arabische Kultur bietet Besucherinnen und Besuchern viele Highlights, so zum Beispiel in den Bereichen Kulinarisches, Musik, Kulturerbe, Architektur und Literatur. Auch landschaftlich steht Palästina Israel in nichts nach. Um Reisende auf eine Entdeckungsreise einzuladen, die auch palästinensische Orte mitberücksichtigt, ist es notwendig, den Palästinenserinnen und Palästinensern einen Platz und Gehör in der Tourismus-Welt zu verschaffen. Touristinnen und Touristen sollen Informationen direkt aus Palästina erhalten, statt immer nur in den Medien über dieses Land zu hören und lesen. Der Kodex soll dabei helfen. Die Idee dazu ist aus einem längerfristigen Projekt heraus entstanden, das sich dafür einsetzt, dass sich PilgerInnen wieder vermehrt auf die traditionelle Form der Pilgerreisen zurückbesinnen und auf lokalen Wegen unterwegs sind. So teilen sie den Alltag der Bevölkerung und erleben die Situation und Lebensbedingungen der Menschen direkt mit. Der heutige Massentourismus hat damit wenig zu tun. Moderne Pilgerreisende lassen sich vom Bus an die wichtigsten Kirche fahren und kehren nach dem Besuch wieder ins Hotel in zurück. Und meist werden die palästinensischen Gebiete auf solchen Reisen nur für ein paar Stunden besucht, wenn überhaupt. Der Kodex soll helfen, auf diese ungleiche Verteilung des Tourismus hinzuweisen; gleichzeitig gibt er praktische Tipps, wie Reisende auch die palästinensischen Orte in ihr Programm einbeziehen und damit einen Beitrag zu mehr Ausgewogenheit leisten können.
Wer steht dahinter? Wie kam es zum Zusammenschluss so unterschiedlicher Stellen in der "Palestinian Initiative for Responsible Tourism" (PIRT)?
Palästinensische Organisationen, die schon seit längerem Begegnungstourismus betreiben, haben diese Initiative gestartet. Schon bald konnte auch das palästinensische Tourismusministerium und Vertreter der kommerziellen Anbieter zum Mitmachen gewonnen werden. Im Herbst 2007 fand dann eine Tagung statt, an der über 80 Interessierte aus mehreren Regionen in Palästina und auch PalästinenserInnen aus Israel teilnahmen. An der Tagung wurden die Strukturen des heutigen Tourismus in Palästina und Israel diskutiert. Es wurden Vorschläge ausgearbeitet, welche Richtlinien helfen können, diese Strukturen zu öffnen und dem palästinensischen Tourismus eine angemessene Teilnahme zu ermöglichen. Natürlich braucht es viel Vorarbeit, um so unterschiedliche Stellen zusammenzubringen. Das grosse Echo, das die Tagung auslöste, hat uns aber gezeigt, dass die Ausarbeitung eines Verhaltenskodexes ein willkommener erster Schritt in die richtige Richtung sein kann.
Die Erarbeitung des Kodexes führte bei so unterschiedlichen Beteiligten in Palästina doch sicher auch zu heissen Diskussionen? Was war umstritten, was hat die Diskussion gebracht?
In der Ausrichtung waren sich alle Teilnehmenden der Tagung einig: Der Verhaltenskodex soll Vorschläge für Änderungen von aussen (ausländische BesucherInnen) und von innen (Tourismusbranche vor Ort) beinhalten. Doch als es um den konkreten Text ging, wurde zwischen radikaleren und weniger radikalen Positionen um eine gemeinsame Formulierung gerungen. Die kommerziellen touristischen Anbieter brauchten etwas Anwärmzeit, bevor sie sich dazu entschieden, den Kodex mitzutragen. Denn immerhin werden sie bezüglich fairen Beziehungen im Tourismus mit in die Pflicht genommen. Die Diskussionen haben sich aber gelohnt. Meiner Meinung nach hat das Dokument zwei Stärken: Zum ersten erklärt es die Situation, in der sich der palästinensische Tourismus heute befindet, und bietet gleichzeitig auch konkrete Lösungsvorschläge. Zweitens umfasst es alle Sektoren, die am Tourismus beteiligt sind, also neben dem Tourismusministerium auch die privaten Anbieter und den Non-Profit-Sektor. Beides war nur durch zähes Ringen um einen Konsens möglich. Doch dass die Tourismusindustrie nicht nur Tipps an die Adresse der Touristen abgibt, sondern sich auch selber auf Richtlinien im eigenen Tätigkeitsfeld verpflichtet, ist eine grosse Leistung.
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Regula Kaufmann hat von August 2006 bis Juli 2008 im Rahmen eines Einsatzprogrammes für die dem Weltkirchenrat in Genf angegliederte Frontier Internship in Mission (FIM) beim Begegnungsreiseveranstalter "Alternative Tourism Group in Beit Sahour" gearbeitet. Bis im kommenden Frühjahr unterstützt sie die Fachstelle OeME der Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn und den Basler arbeitskreis tourismus & entwicklung in der Öffentlichkeitsarbeit über die neuen Initiativen und Begegnungsmöglichkeiten in Palästina.
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Vollständige Fassung des Verhaltenskodexes mit der Liste der Erstunterzeichnenden auf Deutsch und Englisch
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