Der trügerische Paradiesgürtel
Wie kann es soweit kommen, dass Jugendliche bereit sind, sich bei einem terroristischen Anschlag in die Luft zu sprengen und Dutzende von zufälligen Opfern mit sich in den Tod zu reissen? Diese Frage umtrieb den marokkanischen Autor Mahi Binebine seit dem Anschlag, der 2003 in Casablanca über 40 Tote und Hunderte von Verletzten forderte. Denn die Täter kamen nicht aus Libyen oder Afghanistan, sondern aus Sidi Moumen, einem Elendsviertel vor den Toren der Stadt.
In seinem Roman schildert er das Leben von sechs Jungen aus diesem Quartier, wo die Verlierer landen, wo das Leben von Dreck, Gewalt und Aussichtslosigkeit geprägt ist. Die Jungen schlagen sich mit dem Durchwühlen der riesigen Abfallhalde nach Brauchbarem oder mit Schuheputzen durch. Sie spielen begeistert Fussball mit den Etoiles de Sidi Moumen und haben jede Menge Streiche im Kopf. Und sie kümmern sich umeinander, teilen ihre bescheidenen Reichtümer. So versuchen die anderen, Fuad vom Leimschnüffeln wegzubringen oder Nabîl lädt Jaschin ein, seine kleine Hütte mit ihm zu teilen.
Gewalt gehört zum Alltag: der clevere Hâmid ist der Chef der Abfallsammler, er lässt die andern für sich arbeiten und setzt sich wenn nötig mit seiner Fahrradkette durch. Auch der Totschlag eines Erwachsenen, der einem Jungen nachstellt, ist kein Tabu.
Eines Tages taucht Abu Subair in Sidi Moumen auf. Der islamistische Verführer gibt den Jungen eine Perspektive, verschafft ihnen Arbeit und Geld, ermöglich ihnen, zum ersten Mal aus ihrem Quartier heraus zu kommen. Vor allem aber gibt er ihnen ihren Stolz zurück: "Wir waren keine Schmarotzer, kein Abschaum der Menschheit mehr. Wir waren saubere, rechtschaffene Bürger mit ehrenwerten Anliegen". So werden die Jugendlichen langsam an die Idee herangeführt, mit umgeschnalltem "Paradiesgürtel" als von Gott auserwählte Helden zu sterben.
Erzählt wird die Geschichte von Jaschin posthum. Dieser Kunstgriff ermöglicht es dem Autor, die Realität aus der Perspektive eines Betroffenen zu schildern, der zwar als Junge als etwas beschränkt galt, nun aber über eine neue Bewusstheit und entsprechende Ausdrucksmöglichkeiten verfügt. Ein mehr denn je aktueller Roman, der die Zusammenhänge zwischen Armut und Terrorismus besser verständlich macht. Das Buch wurde vom französisch-marokkanischen Regisseur Nabil Ayouch unter dem Titel "Les chevaux de Dieu" 2012 verfilmt. •
Mahi Binebine: Die Engel von Sidi Moumen. Lenos Verlag, Basel 2017, 183 Seiten, CHF 19.50, EUR 14.50, ISBN 978-3-85787-788-9