Vor noch nicht allzu langer Zeit keimte im Südosten der Türkei Hoffnung auf. Ein staatlich kontrollierter Fernsehkanal, der  in kurdischer Sprache sendet, wurde aufgeschaltet. Ministerpräsident Erdogan versprach eine politische Lösung der Kurdenfrage unter Einbezug der prokurdischen Partei für eine demokratische Gesellschaft DTP. Die Regierungspartei AKP verteilte in den Elendsvierteln der kurdischen Städte Lebensmittel. Doch das war vor den Gemeindewahlen Ende März dieses Jahres. Das Kalkül der AKP, mit einigen wohl dosierten Zugeständnissen die kurdische Bevölkerung für sich zu gewinnen, ging nicht auf. Die kurdische Partei DTP errang einen überwältigenden Wahlsieg, stellt nun in 11 Städten und 98 Gemeinden das Präsidium und wurde landesweit zur drittstärksten politischen Kraft. Der türkische Zentralstaat reagierte, wie er das in der Vergangenheit in ähnlichen Situationen immer getan hat: mit massiver Repression.

Verhaftungen
Drei Wochen nach den Wahlen wurden rund 200 DTP-Mitglieder verhaftet, darunter viele Kaderleute. Von den 180 Mitgliedern des Zentralvorstands der DTP sitzen 80 im Gefängnis. Und die Verhaftungswelle dauert an. Inzwischen ist die Zahl der Verhafteten auf über 400 angestiegen. In keinem Fall ist bisher Anklage erhoben worden, noch durften die Anwältinnen und Anwälte die Akten einsehen. Ein Verbot der DTP, so ist zu befürchten, steht unmittelbar bevor.

Kinder in Gefangenschaft
Die Repression richtet sich in letzter Zeit vermehrt auch gegen Kinder. Das Anti-Terror-Gesetz erlaubt es nämlich, bereits Kinder ab 14 Jahren wie Erwachsene abzuurteilen, mit Strafen bis zu 20 Jahren Gefängnis. Sie landen in den gleichen Strafvollzugsanstalten wie die Erwachsenen. Die Anwältin Reyhan Yalcindag schätzt, dass zur Zeit rund 500 Kinder inhaftiert sind, gegen 1000 weitere läuft ein Verfahren. Die „Delikte“ sind banal. Den Kindern wird beispielsweise vorgeworfen, an einer Kundgebung der DTP teilgenommen, Ordnungskräfte mit dem „Victory-Zeichen“ provoziert oder einen Stein gegen einen Panzerwagen geworfen zu haben.

Politik unter erschwerten Bedingungen
Die demokratisch gewählten kurdischen Bürgermeisterinnen und Bürgermeister werden in ihrer Arbeit systematisch behindert. Der Zentralstaat stellt ihnen viel zu wenig Steuergelder zur Verfügung. Er legt seinen Berechnungen Einwohnerzahlen zugrunde, die wegen des massiven Zustroms von Binnenflüchtlingen aus den von der Armee zerstörten Dörfern schon lange nicht mehr aktuell sind. Die Kommunen haben in der Türkei nicht das Recht, eigene Steuern zu erheben. Viele Amtspersonen werden ausserdem mit Strafverfahren überhäuft. Der Bürgermeister von Suhr-Diyarbakir, Abdullah Demirbas, sieht sich mit Strafanträgen von insgesamt 98 Jahren Haft konfrontiert. Es reicht schon, amtliche Dokumente ins Kurdische übersetzen zu lassen, um ein Verfahren zu riskieren. Nicht umsonst prangt an einem der Berge, die Van umgeben, in grossen Lettern die provokative Inschrift: „Glücklich ist, wer ein Türke ist.“

Enttäuschung treibt junge Menschen in die Berge

Die Folgen dieser systematischen Behinderung kurdischer Politikerinnen und Politiker sind verheerend. Vor allem junge Menschen wenden sich enttäuscht von der Politik ab und „gehen in die Berge“, was soviel heisst wie: Sie schliessen sich der Guerilla an. „Wir wollen nicht in die Berge gehen, wir wollen politische Lösungen“, sagt Abdullah Demirbas, „aber der Zentralstaat lässt uns ja nicht politisieren.“ Dabei gäbe es so viel zu tun. Ein grosser Teil der kurdischen Bevölkerung lebt in prekären Verhältnissen, haust oft isoliert in mit Lehm überzogenen Steinhütten am Rand der Städte, ohne Kanalisationsanschluss und fliessend Wasser.

PKK nach wie vor populär

Die kurdische Arbeiterpartei PKK und deren Präsident Abdullah Öcalan geniessen in der Bevölkerung nach wie vor grossen Rückhalt. Gleichzeitig wünschen sich viele Kurdinnen und Kurden nichts sehnlicher, als in Frieden leben zu können. Doch ohne die PKK – so eine weit verbreitete Überzeugung – würde die Kurdenproblematik vom Zentralstaat gar nicht erst wahrgenommen. Die PKK ist aus der Sicht vieler Kurdinnen und Kurden ein wichtiges Pfand, um den Staat zu politischen Zugeständnissen zu zwingen. Zur Zeit hat die PKK einen einseitigen Waffenstillstand proklamiert. Abdullah Öcalan hat einen Friedensplan vorgelegt.

Ein Bürgermeister zum Anfassen

Bekir Kaya, der Bürgermeister von Van, nimmt sich viel Zeit, um uns ein Bild der anstehenden Probleme zu vermitteln und seine Lösungsansätze darzustellen. Wir begleiten ihn auf einer Fahrt durch die Elendsviertel der Stadt. Bei einer Primarschule hält der Wagentross an und wir steigen aus. Im Nu entleert sich der Pausenplatz und wir sind von Hunderten von Kindern umringt, die nur ein Ziel haben: Den Bürgermeister zu begrüssen. Alle drängeln sich nach vorn, wo Bekir Kaya ruhig im Gewühle steht und Kinderhände schüttelt.  

Wahlversprechen werden eingefordert
Nach dem Zwischenhalt bei der Schule geht die Fahrt weiter zum Freien Volksrat des Quartiers. Dieser Rat hat sich noch unter der AKP-Regierung formiert, als parteiunabhängige Interessenvertretung der Quartiersbevölkerung. Der kleine Versammlungsraum ist mit Teppichen ausgelegt, als Sitzgelegenheit dienen Kissen. Der Präsident des Volksrats begrüsst uns im Garten, der das Versammlungsgebäude umgibt. Es werden Trauben und Melonen aufgetischt, und dazu natürlich der obligate Tee. Bekir Kaya erzählt, er habe der hiesigen Quartiersbevölkerung vor den Wahlen ein Quartierzentrum versprochen, mit Räumen für kulturelle und gesellige Anlässe, einer Bibliothek und einer Parkanlage. Er sei kaum eine Woche im Amt gewesen, als der Präsident des Volksrats angerufen und ihn an sein Versprechen erinnert habe. Er, Kaya, habe mit Hinweis auf die prekäre Finanzlage der Stadt den Volksrat auf einen späteren Zeitpunkt vertrösten wollen, doch dieser habe nicht locker gelassen. „Was brauchst du denn?“, habe der Präsident gefragt. „Du lieferst das Land, wir stellen die Arbeitskräfte, du lieferst das Material, wir bauen.“ Und so wird’s jetzt gemacht.
Auch in anderen Quartieren sei er auf solche Arrangements angewiesen, wenn es etwa um den Bau einer Kanalisation gehe, erklärt Bekir Kaya. Er nennt dies partizipative Demokratie. Einmal pro Woche fährt der Bürgermeister hinaus in die Quartiere und informiert sich vor Ort über die anstehenden Probleme. Viele Projekte werden unter Mitwirkung der betroffenen Bevölkerung geplant und realisiert. Nur so sind angesichts der wenigen Geldmittel kleine Fortschritte möglich.

Mutige Frauen und Männer

Wir treffen auf unserer Delegationsreise noch viele Frauen und Männer, die sich unter widrigen Umständen mit Fantasie und viel Engagement für eine Verbesserung der Lage der Bevölkerung einsetzen: in der Politik, in den Gewerkschaften, im Bildungswesen, in Frauenprojekten, in Quartiersräten, in Menschenrechtsvereinen, als Anwältinnen und Anwälte. Diese Menschen machen Mut und lassen hoffen, dass der Konflikt in den kurdischen Gebieten der Türkei irgendwann einmal doch noch politisch gelöst werden kann.
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Bilder: Alle Bilder von Anne-Lise Hilty; zum Bild der Wäscherei Van-Bostanici: Wo die Delegation vor drei Jahren noch einen öden Acker vorfand, steht heut die Wäscherei Maya. Sie bietet Frauen – vorwiegende Binnenflüchtlingen aus den von der türkischen Armee zerstörten Dörfern – nicht nur die Möglichkeit, ihre Wäsche zu waschen, sondern gleichzeitig auch Bildungsangebote wahrzunehmen und ihre Kleider zu nähen. Das Projekt ist auf Antrag des Vereins Städtepartnerschaft Basel-Van mit namhaften Beiträgen aus dem Fonds für entwicklungszusammenarbeit des Kantons Basel-Stadt und der Gemeinde Binningen unterstützt worden. Zusammen mit den vom Verein selber gesammelten Spenden konnten über Fr. 100’000.- für das Projekt überwiesen werden.
"Maya" heisst ide Wäscherei überigens zu Ehren von BastA!-Mitglied Maya Heuschmann, dike sich – zusammen mit anderen Vereinsmitgliedern – von Anfang an stark für das Projekt engagiert hat.