«Die 5 Euro sind mal ein Anfang»
Matteo Baldi: Herr Calzolaio, Sie haben 42 Jahre lang in Venedig gelebt. Wie stark hat sich die Stadt verändert?
Francesco Calzolaio: Sie hat sich stark verändert, was aber nicht allein den Zeitgenossen geschuldet ist. Was wir heute mit dem Massentourismus erleben, ist Teil einer Transformation, die schon vor zwei Jahrhunderten begonnen hat und somit kein exklusiv zeitgenössisches Phänomen ist. Als Mitte des 19. Jahrhunderts die Eisenbahnbrücke nach Venedig erbaut wurde, veränderte sich Venedig von einer Wasserstadt zu einer Fussgängerstadt.
MB: Der heutige Massentourismus geht auf Napoleon zurück? Wirklich?
FC: Zumindest die Art, wie sich die Tourist*innen heute in der Stadt bewegen. Die meisten der Brücken, die wir heute in Venedig begehen, entstanden erst in den letzten zweihundert Jahren. Die Gebäude und Paläste haben sich weniger verändert, aber der Umgang mit dem Wasser ist ein fundamental anderer. Früher war es unmöglich die Stadt zu Fuss zu durchqueren.
MB: Als der venezianische Stadtrat die Eintrittsgebühr für Venedig verabschiedet hat, war noch wenig darüber bekannt, wann und wie diese genau angewendet wird. Warum war das Anliegen plötzlich so dringend?
FC: Die Idee ist überhaupt nicht neu. Seit Jahrzehnten wird darüber diskutiert und dazu geforscht. Beispielweise schlugen Expert*innen und zentrale Figuren des venezianischen Kulturlebens ein weiterentwickeltes Modell der Zugangsbeschränkung vor, das auf einer die Nutzungsabsichten der Besuchenden berücksichtigen sollte.
MB: Dann hat das nichts mit der drohenden Herabstufung Venedigs zur «gefährdeten Stadt» durch die UNESCO zu tun?
FC: Ich möchte nicht behaupten, dass es einen dringenden Zusammenhang gibt, weil ich es schlichtweg nicht weiss. Viel wichtiger ist mir eine differenzierte Diskussion darüber, weswegen sich die Stadt in ihrem heutigen Zustand befindet. Redet man über die Herabstufung der UNESCO ist häufig nur der Tourismus im Fokus – was meiner Meinung nach zu einfach ist. Beispielsweise beschädigen die von Motorbooten verursachten Wellengänge Gebäude und Infrastruktur stark. Doch daran ist nicht ausschliesslich der Tourismus schuld, sondern wie man sich heute in der Stadt bewegt.
MB: «Einfach» scheint auch das Verhältnis der Venezianer*innen gegenüber den Tourist*innen zu sein – zumindest, wenn man die die hiesigen Medienberichte liest: Die einen machen Geschäfte mit Ihnen und lieben sie. Die anderen verlieren ihren Wohnraum aufgrund steigender Mietpreise.
FC: Auch das ist nicht ganz so einfach. Natürlich gibt es diese gegenüberliegenden Positionen und im politischen Diskurs werden sie immer wieder angeführt. Aber in anderen Bereich als der Politik gibt es selbstverständlich Zwischentöne: Etwa Bürger*innen, welche ihre Wohnungen und Häuser verkaufen oder vermieten und dann lautstark kritisieren, dass die Stadt das Problem mit dem Massentourismus zu wenig entschieden angeht. Häufig hört man Venezianer*innen sagen, Venedig sei verloren, weswegen sie ihren Kindern nahelegen würden, aus der Stadt oder ins Ausland zu ziehen. Das ist aber keine Strategie, wie mit der schlechten Verfassung dieser Stadt umzugehen ist, sondern eine Ursache für diese.
MB: Und die Tourist*innen darf man so eindimensional betrachten?
FC: Viele Tourist*innen nehmen wahr, was ihr Besuch für die Stadt bedeutet. Das zumindest ist die Erkenntnis aus einer National Geographic-Untersuchung aus dem Jahr 2005, bei der sich viele mitverantwortlich an der schleichenden Zerstörung Venedigs fühlen. Das ist heute bestimmt nicht anders. Es gibt auch viele, die mit einem grossen Wissen über die Stadt anreisen und neugierig auf Venedig sind. Und die auch zurückkommen möchten. Was ein wichtiger Aspekt für ein nachhaltiges Verhältnis zwischen Einwohner*innen und Tourist*innen ist.
MB: Was halten Sie von der beschlossenen Eintrittsgebühr? Es gibt ja Stimmen, die meinen, das sei reine Symbolpolitik von der Mitte-Rechts-Regierung von Bürgermeister Brugnaro, da sie so tief angesetzt ist.
FC: Klar, das angekündigte Ticket-System hat Schwachpunkte. Beispielweise gibt es keine Obergrenze an Tourist*innen, obwohl das System einst so angedacht wurde und dies immens wichtig wäre. Lösungsvorschläge kommen übrigens von beiden Seiten des politischen Spektrums, diese unterscheiden sich aber nicht wesentlich voneinander. Wichtig scheint mir, dass man mehr als eine dieser Lösungen berücksichtigen würde. Das beschlossene Ticketsystem kann man ja als ersten Schritt eines Prozesses betrachten, oder? Es muss aber weiterhin versucht werden, andere Lösungen und Ansätze zu integrieren: beispielweise ein dynamisches Pricing, um den Spitzentagen entgegenzuwirken, ein Besucher*innenlimit und die Berücksichtigung des Reservationszeitpunkt. Das bringt riesige Unterhalts- und Kontrollkosten mit sich.
MB: Macht das nicht einen Vergnügungspark aus Venedig?
FC: Klar, es darf kein Lunapark-Ticket aus dieser Taxe werden. Die Art, wie man Venedig besucht, sollte daher ins Modell miteinbezogen werden. Wer auf kulturelle Erfahrungen in Venedig aus ist, könnte beispielweise von Vergünstigungen profitieren. So könnte man entsprechende Angebote auch bewerben. Es geht mit dem Ticket auch darum, Bewusstsein zu schaffen für das, was die Stadt ist und was sie kulturell bietet.
MB: Die Probleme der Stadt sind also zu komplex, um sie mit einem Eintrittsgeld zu lösen?
FC: Es müssen sich alle verantwortlich zeigen. Weswegen sich die Bürger*innen lieber fragen sollten: Was kann ich beitragen, um Venedig zu helfen oder neue Wege aufzeigen? Es hilft nichts, wenn Venezianer*in aus dem Fenster schauen und den Niedergang der eigenen Kultur beweinen. Es ginge darum zu schauen, wie sich die venezianische Kultur auf verantwortungsvolle Weise mit einer Geschäftsidee verbinden liesse. Nur darin sehe ich eine nachhaltige Zukunft. Wir müssen in unsere ökonomischen Kompetenzen investieren und Produkte anbieten, welche auf die venezianische Kultur aufbauen. Nehmen wir beispielsweise den Boots-Salon mit dem Slogan: The art of shipbuilidng is back home. Der Salon hat einen klaren Fokus auf Nachhaltigkeit, nimmt Bezug auf Venedigs historische Bootsbau- und Schiffahrtskompetenzen und möchte so die lokale Wirtschaft und den lokalen Arbeitsmarkt fördern. So wurde beispielsweise ein elektrisches Boot für den Personentransport präsentiert, das keine Wellen schlägt und auch für Personen mit Mobilitätseinschränkung zugänglich ist. Das Projekt wurde von einem örtlichen Verein angestossen und von venezianischen Fachkräften designt und umgesetzt.
MB: Wie steht es eigentlich um die Venezianer*innen selbst?
FC: Weniger als 50’000 Menschen wohnen noch in Venedig. Als ich den 70gern hierher kam, waren es noch 110’000. Heute übersteigt die Anzahl der Betten von Hotels und Bed-and-Breakfast-Angeboten bald jene der Einwohner*innen. Aber die Venezianer*innen sind ziemlich resilient und die Vernetzung unter ihnen ist intakt. Das weiss ich aus eigener Erfahrung. Beispielsweise haben wir eine Sagra zu Ehren San Marziales veranstaltet und es kamen 200 Einheimische. Entsprechend gibt es auch zivilgesellschaftliche Initiativen, wie «disnar per la Storica» («Abendessen für die historische Regata»), bei dem alle Einheimischen Essen und Trinken mitbringen, um die historische Regata kulinarisch zu bereichern, sich auszutauschen und zu vernetzen.
MB: Sie haben es geschafft, dass dieses Interview kaum die Finten der italienischen Politik tangiert hat – und das bei einem Thema, das beinahe nur politisch verhandelt wird.
FC: Das Richtige ist selten nur auf einer Seite zu finden. Gerade bei komplexen Problemen, die viele verschiedene Interessen und Institutionen betreffen, befindet es sich in der Fähigkeit, richtig zu regieren. Und dafür muss man hinhören und nicht bloss Ja-ja, Nein-nein sagen. Politik ist Kultur.
Francesco Calzolaio
Francesco Calzolaio hat 42 Jahren in Venedig gewohnt, wo er als Architekt gearbeitet hat. Er erforscht und entwickelt Projekte, wie das Wasser die Gemeinschaften verbindet, an die es ufert. Zurzeit wohnt er in den Marken, sei aber noch «mit einem Bein zwischen Küste und Boot» mit Venedig verbunden.