Die Erfindung der Wanderwege
Johann Jakob Ess war der Erste, der erkannte, dass Wandern ein nationaler Trend ist. Und als er in den 1930er-Jahren den Grundstein für das heutige Wanderwegnetz legte, tat er dies im Mittelland. Er und seine Mitstreiter fingen an, Wege einheitlich zu markieren. Diese starteten vorerst an den Tram-Endstationen rund um Zürich und führten so Wanderinnen und Wanderer in die Natur. Sie schufen so die Grundlage des heute über 65’000 Kilometer umfassenden Wanderwegnetzes der Schweiz. Erst markierten sie alle Wanderwege mit gelber Farbe, später kamen die Wegkategorien Bergwanderweg in Weiss-Rot-Weiss und – seit etwas mehr als zehn Jahren erst – Alpinwanderweg in Weiss-Blau-Weiss hinzu.
"Vater hätte am liebsten grüne Wegweiser gehabt", erzählt heute Hans Ess, der fast hundert Jahre alte Sohn von Johann Jakob Ess. Er erinnert sich an seine Kindheit, an einen Test mit verschiedenen farbigen Wegweisern am Waldrand nahe Meilen ZH, wo heute noch ein Gedenkstein zu Ehren des "unermüdlichen Förderers der Wanderwege" steht. Die grünen Wegweiser fielen durch, weil man sie vor Bäumen nicht sah. "Orange oder Rot wollte mein Vater nicht haben, denn er war leicht farbenblind und die grellen Farben taten ihm weh in den Augen. So wurde also beschlossen, dass gelb passend war", sagt Hans Ess.
Schlüsselmomente der Wanderer
Der Boom des Wanderns hat seinen Ursprung im aufkommenden Autoverkehr in den 1920er-Jahren. Die Fussgänger gerieten damals immer mehr in die Defensive, und so erlebte Johann Jakob Ess seinen Schlüsselmoment: Der Lehrer aus Meilen wanderte mit seiner Schulklasse über den Klausenpass, damals noch auf der Strasse. Wegen des starken Verkehrs marschierte die Gruppe in Staub- und Abgaswolken und musste immer wieder den Autos ausweichen. Ess hatte genug: "Am liebsten hätte er die Wege für die Autos gesperrt und als Fusswege markiert", erinnerte sich sein Sohn Hans. Deshalb gründete Johann Jakob Ess zusammen mit seinen Mitstreitern 1933 erst die Zürcher Wanderwege, ein Jahr später dann die Schweizer Wanderwege, eine gesamtschweizerische Dachorganisation, die sich für die Wanderwege einsetzt.
Gut 40 Jahre später ärgerten sich die Wanderer erneut über den Verkehr und den Zustand der Wege, was zu einer weiteren Schweizer Besonderheit führte: Hierzulande sind die Wanderwege in der Verfassung verankert. Dies forderte die "Volksinitiative zur Förderung der schweizerischen Fuss- und Wanderwege", der das Volk – trotz Widerstandes des Bundesrates – 1979 deutlich zustimmte. Seither dürfen Wanderwege in der Schweiz nicht mehr asphaltiert oder betoniert werden, ohne dass dafür Ersatz geschaffen wird.
Kurzwanderungen für Automobilisten
Naturbelag und eine intakte Natur schätzen vor allem auch Wanderinnen und Wanderer aus den Städten und Agglomerationen, für die die Naherholung wichtig ist. Eine Kurzwanderung soll durch eine schöne Umgebung führen, gut erreichbar, nicht allzu anstrengend und wenn möglich mit einer hübschen Beiz am Weg ausgestattet sein.
Das wusste offenbar auch Johann Jakob Ess. In seinen Wanderbüchern, die er schrieb, setzte er auffallend oft auf kürzere Wanderungen im Mittelland. "Die Annahme, dass zahlreiche Automobilisten mit ihrer Familie an freien Tagen gern Wanderungen ausführen möchten, aber dass ihnen in der Hetze der Arbeit die Zeit fehlt, sich mithilfe der Karte Projekte auszudenken, hat sich als richtig erwiesen", schreibt der Autor im Vorwort des Büchleins "Auf froher Fahrt – 25 Wandervorschläge für Automobilisten". Offenbar hatten die Menschen schon damals eine etwas unausgeglichene Work-Life-Balance und das Bedürfnis, kurze Wanderausflüge zu unternehmen. Spaziergänge sind nämlich heute noch sehr beliebt: Laut der Studie "Wandern in der Schweiz 2014" dauern gut ein Drittel aller Wanderungen nicht länger als zwei Stunden. Und es sind immer mehr, die in der Schweiz die Wanderschuhe schnüren: Wandern ist in den letzten Jahren zur beliebtesten Sportart der Schweizerinnen und Schweizer avanciert und hat damit Velofahren, Schwimmen und Skifahren hinter sich gelassen.
Was das Wandern – insbesondere auf kürzeren Strecken – für die Gesellschaft bedeutet, kann aus einem Brief von Johann Jakob Ess geschlossen werden, in dem er sich 1962 für die Verleihung der Ehrendoktorwürde durch die medizinische Fakultät der Universität Zürich bedankte. "Denn zahlreiche Menschen unserer Zeit sind durch den modernen Arbeitsprozess, die Zusammenballung der Bevölkerung in Städten und Industriezentren, durch die technisierte Lebensweise psychologisch verstädtert; (…). Für sie alle bedeuten Wanderungen körperlich Erholung und seelisch Besinnung auf sich selbst."