Antonia Merz: Während meiner Reise durch den Iran war ich von der Gastfreundschaft der iranischen Bevölkerung tief beeindruckt. Viele Frauen und Männer luden uns zu sich nach Hause ein, zum Essen, zum Schlafen und um inmitten ihrer Familien zu sein. Wenn ich diese freundlichen und friedlichen Menschen auf der Strasse sehe, macht mir das Sorgen. Wofür demonstrieren sie? 

Maryam Banihashemi: Diesmal begann der Protest mit dem Tod einer 22-jährigen Frau, die von der berüchtigten Sittenpolizei wegen einer geringfügigen Abweichung von ihren absurden Regeln brutal ermordet wurde. Doch schon bald weitete sich der Protest auf das ganze Land und die ganze Welt aus. Die Menschen riefen "Frauen, Leben, Freiheit" und forderten Gerechtigkeit für Mahsa Amini und alle anderen Frauen und Menschen, die von den Menschenrechtsverletzungen betroffen sind. 

Jetzt wurde daraus eine Revolution, das iranische Volk will, dass dieses Regime verschwindet. 

AM: Der Iran war der erste Ort – und ich war vorher viel auf Reisen – an dem mir bewusst wurde, dass ich eine Frau bin. Nicht im guten Sinne, sondern weil ich mich aufgrund meines Geschlechts zweitrangig fühlte. Meine Gefühle dazu, habe ich in einem Blogartikel verarbeitet. Ich nehme an, Sie kennen dieses Gefühl… Ich war damals auch schockiert, als ich hörte, dass es Frauen normalerweise nicht erlaubt ist, in der Öffentlichkeit Fahrrad zu fahren, Badmington zu spielen, zu singen oder Billard zu spielen, ohne einen zweiten Mantel über ihrem "normalen” Mantel zu tragen. Ich konnte nicht glauben, dass etwas Gesundes und Gewöhnliches für mich verboten war. Was gibt es noch, das Frauen im Iran nicht erlaubt ist? 

MB: Als iranische Frauen sind wir in vielen Dingen, die in anderen Ländern als normal gelten, extrem eingeschränkt. Frauen im Iran sind gezwungen, in der Öffentlichkeit den Hidschab zu tragen, das Kopftuch, das einige muslimische Frauen tragen. Dies gilt sogar für junge Schulmädchen, die die Kopfbedeckung tragen müssen, um die Grundschule zu besuchen. 

Die Rechte der Frauen sind im Iran so stark eingeschränkt, dass es Frauen sogar verboten ist, in Stadien dem Sport der Männer zuzusehen. Ausserdem dürfen verheiratete Frauen nicht einmal das Land ohne die Erlaubnis ihres Mannes verlassen. So konnte die Kapitänin der iranischen Frauenfussballmannschaft, Niloufar Ardalan, im September nicht an einem internationalen Turnier in Malaysia teilnehmen, weil ihr Ehemann ihr die Reise untersagte. Frauen und Mädchen werden im Iran nach wie vor als Bürger zweiter Klasse behandelt. 

In der iranischen Gesetzgebung und Praxis gibt es eine eklatante Diskriminierung. In verschiedenen Bereichen des Lebens von Frauen, einschliesslich Ehe, Scheidung, Beschäftigung und Kultur, sind iranische Frauen entweder eingeschränkt oder benötigen die Erlaubnis ihrer Ehemänner oder väterlichen Vormünder, wodurch sie ihrer Autonomie und Menschenwürde beraubt werden. 

Hier einige weite Bereiche, in denen Frauen diskriminiert werden: 

Heirat: In der Islamischen Republik wurde das Heiratsalter für Mädchen zunächst auf neun Jahre herabgesetzt. Im Jahr 2002 hob das Parlament das Alter auf 13 Jahre an. Die Justiz hat spätere Bemühungen, das Heiratsalter höher zu setzen, blockiert. 

Scheidung: Eine Frau konnte die Scheidung nur vor Gericht mit einem richterlichen Beschluss erwirken, während ein Mann die Scheidung mündlich aussprechen konnte. Im Jahr 2002 änderte das Parlament das Gesetz dahingehend, dass sich eine Frau von ihrem Mann scheiden lassen kann, wenn dieser im Gefängnis sitzt, psychisch krank ist, sie körperlich misshandelt oder süchtig ist. 

Kleiderordnung: Alle Frauen sind verpflichtet, ihr Haar zu bedecken und sich ab dem Alter der Pubertät bescheiden zu kleiden. Das Gesetz definiert nur vage, was als Verstoss gegen die Moral gilt, und die Behörden haben lange Zeit hunderte von Menschen wegen solcher Handlungen sowie wegen einvernehmlichen, ausserehelichen Geschlechtsverkehrs strafrechtlich verfolgt. 

Sorgerecht für Kinder: Eine geschiedene Frau verliert das Sorgerecht für ihre Kinder, wenn sie wieder heiratete, selbst wenn ihr Mann stirbt. 

Staatsangehörigkeit: 40 Jahre lang konnten Frauen ihre Staatsangehörigkeit nicht an im Ausland geborene Ehegatten oder deren Kinder weitergeben. Im Jahr 2019 verabschiedete das Parlament ein Gesetz, das es Frauen, die mit ausländischen Männern verheiratet sind, erlaubt, die iranische Staatsbürgerschaft für Kinder unter 18 Jahren zu beantragen. 

Reisen: Eine verheiratete Frau kann ohne die schriftliche Erlaubnis ihres Mannes weder einen Reisepass erhalten noch ausserhalb des Irans reisen. Der Ehemann kann den Wohnort des Paares bestimmen und seine Frau daran hindern, bestimmte Jobs anzunehmen, die seiner Meinung nach gegen die "Familienwerte" verstossen. 

Erbschaft: Eine Witwe erbt nur ein Achtel des Vermögens ihres Mannes. Ein Sohn erbt doppelt so viel wie eine Tochter. 

Eine weitere bizzare Einschränkung ist, dass Sängerinnen nicht in der Öffentlichkeit singen oder ihre Lieder veröffentlichen dürfen. 

AM: Demonstrieren jetzt auch Männer im Iran? 

MB: Sicher! Männer protestieren Schulter an Schulter mit den Frauen. Diese Revolution wird vom ganzen iranischen Volk getragen, auch wenn sie zunächst mit Frauenprotesten begann. Bei dem, was wir jetzt bekämpfen, geht es um Menschenrechtsverletzungen. Auch viele Männer wurden verhaftet und sitzen im Gefängnis, nur weil sie ihre politischen Ansichten geäussert haben oder sich für den Klimawandel und den Schutz von Tieren wie dem iranischen Gepard einsetzen. 

AM: Ich habe viele hochqualifizierte Frauen im Iran kennengelernt, die nicht arbeiten konnten, weil immer die männlichen Bewerber bevorzugt wurden. Was macht das mit dem Selbstwertgefühl einer Frau? 

MB: In den letzten 20 Jahren gab es mehr gebildete und gut qualifizierte Frauen, die arbeiten hätten können. Aber wir sind bei der Arbeit vielen Belästigungen ausgesetzt. 

Ich selbst habe eine schwierige Situation erlebt, als ich Geschäftsführerin eines Unternehmens war, das ein 250-Millionen-Euro-Projekt für eine Organisation im Zusammenhang mit der Armee der Islamischen Republik leitete. Einer der obersten Führungskräfte (ein verheirateter, alter Mann) belästigte mich sexuell, in dem er mir anbot, eine persönliche Beziehung zu ihm aufzubauen. 

Das ganze Projekt, die Arbeitsplätze und die Gehälter meiner 30 Mitarbeitenden sowie meine Partnerschaft im Unternehmen hing an dieser Entscheidung. 

Ich musste schlussendlich kündigen und verlor einen Grossteil meiner Einkünfte, da meine Partner der Meinung waren, dass es mein Fehler war, die Situation so zu handhaben, wie ich es tat. 

AM: Was können wir in der Schweiz und anderen Ländern tun, um die Demonstrationen zu unterstützen? 

MB: Ich habe allen Medien, bei denen ich Interviews geben konnte, bei unseren Protesten in der Schweiz und bei meinen Treffen mit Politikern im Parlament deutlich gemacht, dass wir den Schweizer Bundesrat bitten, sehr schnell ernsthafte Massnahmen zu ergreifen. 

Was wir von der Schweiz verlangen: 

  1. Verurteilung des gewalttätigen Verhaltens der Islamischen Republik 
  2. Ausweisung des Botschafters 
  3. Verhängen von strengen Sanktionen (gleichwertig mit den Magnitsky-Sanktionen1) gegen iranische Beamte, Schlüsselakteure und Mitglieder der Revolutionsgarde2 und des Regimes, die für Razzien verantwortlich sind, sowie deren Familien. 
  4. Verweigerung des Visums aller Beamten der Islamischen Republik und Zurückweisung derjenigen, die bereits ein Visum oder eine Aufenthaltsgenehmigung in der Schweiz haben, um zu verhindern, dass sie aus dem Iran fliehen und in die Schweiz einreisen können. 
  5. Soziale Medien- und Technologieunternehmen bitten, bei der Umgehung der Zensur zu helfen und die Infrastruktur zu unterstützen, um einen freien Internetzugang im Iran zu ermöglichen. 
  6. Eröffnung eines zuverlässigen, schnellen und effizienten Wegs für die Überweisung von Geldern zur Unterstützung iranischer Menschen, die dringend auf Hilfe angewiesen sind, zum Beispiel für die Freilassung derjenigen, die während der Proteste verhaftet wurden, um weitere Folterungen, Vergewaltigungen, Morde und Selbstmorde zu verhindern.

Snowflake

Um die Protestbewegung zu bremsen, blockiert die iranische Regierung den Internetzugang. Dieser Zugang ist essenziell für die iranische Bevölkerung. Nicht nur, um sich untereinander zu vernetzten, sondern auch um unzensiert an unabhängige Informationen zu gelangen. Mit der Browserextension «Snowflake» können wir in der Schweiz mit wenigen Klicks direkt helfen. Das Prinzip ist ganz einfach: Dein Computer funktioniert als Proxy mit dem eigenen Internetzugang und stellt ihn anderen zur Verfügung. 

Die Extension ist kostenlos, stört bei der Nutzung deines Browsers nicht und ist für dich risikofrei. Sie kann mit Google Chrome, Firefox, Microsoft Edge und Brave verwendet werden.   

Was du sonst noch tun kannst: Was du noch tun kannst: Informationen und Posts teilen, darüber reden, auf die Strasse gehen und Petitionen unterschreiben.

Der Iran als Reiseland

Wie gesagt: Gastfreundschaft ist die kulturelle Identität der Iraner*innen. Egal ob bei der Mittagsrast in einem der Parks, die rege genutzt werden oder einfach so, während des Radelns: Es winkt und grüsst und lacht von überallher. Die Iraner*Innen interessieren sich für Ihre Gäste und deren Wohlergehen, sind gerne bereit, Auskunft zu geben, Obst zu verteilen oder ins Gespräch zu kommen. Ein wunderbares Reiseland also, bei dem man die liebenswürdigen Menschen genauso schnell ins Herz schliessen wird wie die atemberaubend unterschiedlichen Landschaften und die alte persische Kultur, die bis heute die Menschen prägt. Ich rate also unbedingt zu einer Reise in den Iran. Aber vielleicht ist es ratsam zu warten, bis sich die Verhältnisse – hoffentlich zum Guten für die Bevölkerung – gedreht haben. 

Schonmal zur Steigerung der Vorfreude: Iran – Wie Tourismus ein Dorf aufblühen lässt