Sie durften nicht zur Schule gehen und lebten in Angst und Schrecken vor der Fremdenpolizei. Und dies mitten in der Schweiz: die versteckten Kinder der Saisonniers. Die SVP will wieder zurück zum Saisonnierstatut. Dieses regelte bis 2002 die Zuwanderung in die Schweiz. Mit verheerenden Auswirkungen auf die Saisonniers und ihre Kinder: Das Statut verbot ihnen etwa den Familiennachzug. Wer nicht jahrelang getrennt von seinem Kind leben wollte, musste es verstecken. Die Zürcherin Aurora Lama (58) war so ein verstecktes Kind. Im letzten Work hat sie das Schweigen gebrochen: Die gebürtige Spanierin lebte in den 1960ern vier Jahre als verstecktes Kind in Lausanne. Aurora war eines von Tausenden Kindern in der Schweiz, die isoliert aufwuchsen, nicht zur Schule gehen durften, von Ängsten geplagt waren. Die Berner Psychologin und Therapeutin Marina Frigerio widmet diesem wohl dunkelsten Kapitel in der Schweizer Geschichte der letzten fünfzig Jahre nun ein Buch. Sie hat Interviews mit den Betroffenen gemacht, mit heute Erwachsenen, die als Kinder im Untergrund leben mussten, in ständiger Angst vor der Fremdenpolizei, der Frepo, vor Denunziationen, vor Ausweisungen. Und Frigerio zeigt auf, wie diese seelische Pein sie für immer geprägt hat.

Renato, Catia und Mariella

Zum Beispiel Renato aus dem italienischen Brescia: "Wir fühlten uns wie im Gefängnis, ohne den Grund dafür genau zu kennen", erzählt er im Gespräch. Als Bub lebte er heimlich zusammen mit seinem Vater, seinem Bruder, und einer weiteren Familie in einer winzigen Zweizimmerwohnung in Balsthal SO. Oder Catia aus Florenz. Sie war zwölf Jahre alt, als sie in die Schweiz kam. Drei Jahre verbrachte sie allein zu Hause, versteckt vor der Fremdenpolizei. Als sie einreiste, wussten die Eltern nichts vom Saisonnierstatut. Sechs Monate später stand die Frepo vor der Tür und verlangte die Ausreise des Kindes. Die Eltern fuhren nach Italien zurück. nur um die Kleine im Kofferraum des Alfa Romeo wieder über die Grenze zu schmuggeln. Catia: "Ich hatte panische Angst davor, entdeckt zu werden." Von dieser Angst waren besonders die Eltern geprägt. Sie wiesen das Kind ständig an: "Still! Man darf dich nicht hören! Psst!". Und Mariella aus Apulien: Weil die Eltern das Kind trotz Saisonnierstatut in der Nähe haben wollten, gaben sie es in ein von Nonnen geführtes Heim im grenznahen Domodossola. Doch Mariella wurde misshandelt: "Die Nonnen schlugen mich jeden Tag: Ohrfeigen, Fusstritte, Faustschläge." Als die Mutter das erfuhr, nahm sie die Tochter heimlich in die Schweiz. Wegen des Bildungsrückstands hatte Mariella es später bei der Lehrstellensuche sehr schwer.

Bundesrat wusste alles

Ein verstecktes Kind war auch der Regisseur Alvaro Bizzarri. Seither kämpft er mit der Kamera gegen die Diskriminierung der "Tschinggen", Bizzarri drehte mehrere Filme für das Schweizer Fernsehen. Unter anderem den Spielfilm "Lo stagionale" (1972), in dem er das Schicksal des Saisonarbeiters Giuseppe erzählt. Der Film beeindruckte damals so sehr, dass er zwei Demos gegen das Saisonnierstatut provozierte, eine vor dem Bundeshaus und eine zweite vor der italienischen Botschaft. Bizzarri erinnert sich: "Die meisten Schweizer wussten nichts von der Tragödie der versteckten Kinder und den Lebensbedingungen der Saisonniers." Der Bundesrat schon: 1992 äusserte sich der damalige CVP-Justizminister Arnold Koller gegenüber Autorin Frigerio in einem schriftlichen Interview wie folgt: "Das Problem ist dem Bundesrat vollauf bewusst. Die Kinder sind effektiv da. Aber aus dieser Tatsache darf nicht einfach abgeleitet werden, dass auf jegliche Einhaltung der fremdenpolizeilichen Vorschriften verzichtet werden kann."

Tragödie wieder aktuell

Typisch scheint, dass Psychologin Frigerio das Buch "Verbotene Kinder: Die Kinder der italienischen Saisonniers erzählen von Trennung und Illegalität", das jetzt in einer Neuauflage erscheint", bereits 1992 herausgegeben hatte. Das Thema ging aber schnell wieder unter. Vor zwei Jahren kam eine italienische Fassung heraus, die auf grösstes Interesse stiess – aber nur in Italien. Jetzt, nach der Abstimmung vom 9. Februar über die SVP-Abschottungsinitiative, schreibt Frigerio, seien die im Buch geschilderten Schicksale "mit voller Wucht in die Gegenwart" geholt worden. Die Psychologin mit italienischen Wurzeln fühlt sich heute an die Schwarzenbach-Ära der 1970er Jahre erinnert: "Damals herrschte dasselbe Klima: die Angst und die Wut der Migrantinnen und Migranten einerseits und die Ablehnung und die täglichen Tiraden gegen die ‹Ausländer› andererseits." Der Schriftsteller Franz Hohler drückt es im Vorwort in einem Gedicht selbstkritisch so aus: "Die verbotenen Kinder / waren Opfer des Wohlstands / den wir erwarben / durch die Arbeit anderer / deren Muskelkraft / uns willkommen war / deren seelische Kraft / oder Schwäche hingegen / uns nicht gekümmert hat".
* Marina Frigerio: Verbotene Kinder. Die Kinder der italienischen Saisonniers erzählen von Trennung und Illegalität". Vorwort von Franz Hohler. Rotpunktverlag, Zürich 2014. Erscheint im Mai.
Dieser Beitrag erschien in "work" vom 20.04.2014, der Zeitschrift der Gewerkschaft Unia. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung.