Die Wegbereiter
Mehr als 65’000 Kilometer Wanderwege durchziehen die Schweiz, Millionen Touristen und Einheimische sind jedes Jahr auf dem dicht gewebten Netz unterwegs – das Wandern ist DER Volkssport der Schweiz und es wird immer beliebter. Dass die Infrastruktur so perfekt ist, dafür sorgen mehr als 1’500 Freiwillige, verteilt über alle Kantone und Gemeinden. Einer davon ist Josef Schmid. Wenn es jemanden gibt, der sich in der Gemeinde Oberegg im Appenzellerland auskennt, dann ist das der inzwischen 70-jährige ehemalige Postbote. Seit nunmehr 30 Jahren betreut er als freiwilliger Weginspektor mehr als 40 Wanderkilometer in seiner Heimatregion. Zu seinen Aufgaben zählen Kontrollgänge, Bestandsaufnahmen, Wegmarkierungen, Geländepflege, kleinere Instandhaltungen, die Koordination grösserer Baumassnahmen, die Abstimmung mit Landeigentümern, die Protokollierung und Dokumentation seiner Arbeit und und und. "Eigentlich bin ich seit fünf Jahren in Pension, doch meine Tochter scherzt immer, dass ich inzwischen mehr unterwegs bin als früher in der Arbeit", schmunzelt Josef.
Grosse Verantwortung
Weit mehr als 100 Arbeitsstunden kommen so jedes Jahr zusammen. "Die unzähligen Stunden am Computer lasse ich dabei unter den Tisch fallen, sonst zeigt mir meine Frau irgendwann den Vogel", gibt Josef lachend zu. Überhaupt braucht man für diesen Job eine unbändige Leidenschaft fürs Wandern und für die Natur. Bei Wind und Wetter, im Regen und Schnee ist Josef auf "seinen" Wegen unterwegs. "Sobald eine Route von uns ausgeschildert wird, sind wir für den Zustand der Wege verantwortlich. Wenn mal eine Markierung fehlt, ist das das eine. Wenn aber jemand stürzt, weil etwa Starkregen den Pfad weggeschwemmt hat, haben wir ein echtes Problem."
Wie ein ordnungsgemässer Wanderweg in der Schweiz auszusehen hat, das definiert die Dachorganisation Schweizer Wanderwege in Abstimmung mit dem ASTRA, dem Bundesamt für Strassen. In den Leitlinien wird festgelegt, wo zum Beispiel Wegweiser stehen müssen oder ab wann ein Abschnitt als absturzgefährdet gilt und entsprechend gesichert werden muss. "Für die Umsetzung wiederum sind die Kantone mit ihren Fachorganisationen zuständig", erklärt Urs von Däniken, der Präsident des Vereins Appenzell Ausserrhoder Wanderwege. Wenig später bin ich mit Josef unterwegs zum ersten Einsatz. In seinem Allrad-Panda mit den gelben Magnetschildern "Wanderweg-Kontrolle" an den Türen hat Josef alles, was er für seine Kontrollgänge braucht: Pinsel, Farbe, Drahtbürste, Reinigungstücher, Säge, Rosenschere und ein kleines Erste-Hilfe-Set. Heute frischt er eine der gelben Markierungsrauten an einem Wassertrog auf. "Die spezielle Farbe ist sehr langlebig, aber gerade an exponierten Stellen setzt die Witterung ihr doch sehr zu. Daher kontrollieren wir regelmässig, ob die nötigen Markierungen und Schilder gut sichtbar für die Wanderer sind." Während die Farbe trocknet, nutzt Josef die Zeit, um hier eine lose Schraube nachzuziehen und da widerspenstigen Dornenbüschen mit der Säge zu Leibe zu rücken. "Was ich nicht an Ort und Stelle selbst beheben kann, wird mit einer Standortmarkierung protokolliert. Muss zum Beispiel eine Brücke erneuert werden, rückt zeitnah das Bezirksbauamt oder der Zivilschutz mit dem entsprechenden Gerät aus", berichtet Josef.
Der Teufel steckt im Detail
Einmal im Jahr, meist im Juni, gibt es eine Art Komplettinventur. Dann läuft Josef mit den Vertretern des Bezirks und der Zivilschutz Organisation die Wanderwege in Oberegg ab, um eine grosse Bestandsaufnahme zu machen, im Zuge derer aufwendige Massnahmen geplant werden. "Aber natürlich ist unser Ziel, dass die Wege permanent gut in Schuss sind und es möglichst keine längeren Schliessungen gibt. Daher bin ich das ganze Jahr über im Einsatz", so Josef. Unser nächster Stopp ist die Teufelskanzel. Auf dem Weg zum markanten Felskopf entdeckt Josef einen abgebrochenen Eisenstumpf. "Das ist eine gefährliche Stolperfalle. Man muss auch immer berücksichtigen, von wem der Weg begangen wird. Dieser Abschnitt hier ist kurz und wenig anspruchsvoll, entsprechend sind auch viele Wanderer mit Kindern unterwegs. Den Stumpf werden wir auf jeden Fall entfernen." Im Anschluss führt Josef mich noch zum Chindlistein, einem Kraftort östlich der Gemeinde Heiden. Eigentlich ist Josef hier gar nicht mehr zuständig, doch da der zugehörige Wanderweg auch über sein Territorium führt, betreut er gleich den ganzen Weg. Der Legende nach rutschten hier Frauen mit entblösstem Hinterteil auf einem Besenstiel den Chindlistein hinunter, um ihre Fruchtbarkeit zu steigern.
Pflanzenkunde im Vorbeigehen
Auch wenn Josef jeden Wandermeter in und um Oberegg wohl schon Tausende Male gegangen ist – seine Begeisterung ist ungebrochen. Bei unserem Streifzug bekomme ich noch eine Lektion in Sachen Natur- und Pflanzenkunde. Breitwegerich bei Ohrenschmerzen, Spitzwegerich gegen juckende Insektenstiche, Johanniskraut für die Behandlung von Narben oder Farn, der Ungeziefer im Hühnerstall fernhält – Josef kennt sich aus und teilt sein Wissen gern. Daher bin ich wenig erstaunt, als ich erfahre, dass er auch auf den Wanderwegen unterwegs ist, wenn er sie nicht gerade instand hält. Als Wanderführer bringt er Gruppen raus in die Natur. Ob er denn da hauptsächlich in seinem Bezirk Oberegg unterwegs sei? Josef lacht. "Nein, es gibt ja auch noch andere schöne Regionen in der Schweiz."
Dieser Beitrag wurde im 4-Seasons-Magazin vom Herbst 2018 veröffentlicht. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung.