Doppelter Betrug in Nepal: Das Geschäft mit den falschen Waisenkindern
Basel, 28.05.2014, akte/ Rund 800 Waisenhäuser gibt es in Nepal. Diese Zahl aus der englischen Tageszeitung Guardian erscheint hoch für das kleine Land im Himalaya mit seinen knapp 28 Millionen EinwohnerInnen auf einer Fläche, die dreieinhalb Mal so gross ist wie die Schweiz. Überwältigende 80 Prozent dieser Waisenhäuser lägen in Touristenzentren, heisst es weiter. Grund hierfür sei der aus anderen Reiseländern bekannte sogenannte Waisenhaustourismus, der sich auch in Nepal zu einem einträglichen Wirtschaftszweig entwickelt habe.
Drei Prozent seines nationalen BIP erwirtschafte Nepal über den Tourismussektor, 2012 seien mehr als 600’000 BesucherInnen ins Land gekommen. Wie der Guardian-Journalist Pete Pattisson mit anschaulichen Beispielen belegt, gehört für viele von ihnen ein Freiwilligeneinsatz in einem der vielen Waisenhäuser zum festen Teil ihres Reiseprogramms. Im Ursprung vielleicht gut gemeint, ist dieser Art des Freiwilligentourismus, jedoch äusserst problematisch. Nicht nur ist ein zeitlich begrenzter Einsatz in einem lokalen Waisenhaus durch nicht pädagogisch geschultes Personal ohne kulturellen Bezug zum Reiseland an sich eine fragwürdige Angelegenheit. Wo jedoch Kinderhandel und Missbrauch auf der Tagesordnung stehen, braucht nicht mehr diskutiert zu werden.
Pattisson schildert, wie nepalesische Eltern aus armen, meist ländlichen Verhältnissen mit dem Versprechen auf Bildung dazu gebracht werden, ihre Kinder in ein Waisenhaus zu schicken. Dort würden die Kinder dann dazu getrimmt, westliche Reisende dazu zu animieren, möglichst viel Geld zu spenden. Anstatt in die Bildung der Kinder fliesse das Geld jedoch in die Taschen der WaisenhausbetreiberInnen.
Eindrückliches Beispiel hierfür ist die Geschichte von Lojung Sherpa, die drei ihrer Kinder mit der Hoffnung auf ein besseres Leben nach Kathmandu ins Happy Home Waisenhaus geschickt hatte. Nachdem sie erfuhr, dass ihre Kinder dort jedoch nicht von den Spendengeldern der TouristInnen profitierten, reiste sie selbst in die Hauptstadt, um ihre Kinder zurückzuholen. Als sie immer wieder abgewiesen wurde, suchte sie Hilfe.
Die Nichtregierungsorganisation Freedom Matters sorgte schliesslich dafür, dass die Polizei hinter die Kulissen des "Happy Home" blickte. Sherpas Kinder wurden gefunden, der Waisenhausbesitzer mit dem Vorwurf der Kindesentführung und des Betrugs verhaftet. "Betritt ein Kind einmal ein Waisenhaus, scheint es zum Besitz des Waisenhausbesitzers zu werden", zitiert Pattisson Philip Holmes von Freedom Matters. "Sie werden faktisch zu Gefangenen des Waisenhauses."
Doch nicht nur die Familien der betroffenen Kinder würden mit dem Geschäft mit dem Mitleid systematisch betrogen, auch die westlichen Freiwilligen fühlten sich hinters Licht geführt und ausgenommen. Pattisson sprach mit der Slovakin Dorota Nvotova, die 2008 als Freiwillige im Happy Home gearbeitet hatte. 150’000 Euro warb sie an Spendengeldern ein, bis sie herausfand, dass es dem Betreiber nicht um die Kinder, sondern ums Geschäft ging. Oft müssten die Eltern der Kinder sogar Geld an Mittelsleute bezahlen, die die Kinder in entsprechenden Einrichtungen unterzubringen versprechen.
Aber: "Gäbe es die westlichen Touristen nicht, die kommen, Freiwilligenarbeit leisten und Geld spenden, würde der Besitzer das Waisenhaus nicht eröffnet haben", gibt eine der Voluntouristinnen dem Journalisten gegenüber reuig zu. Sie musste miterleben, wie eines der Kinder zudem sexuell missbraucht wurde und meldete dies der lokalen NGO Action for Child Rights (ACR). Diese recherchiert seit langem zu den Zusammenhängen von westlichem Tourismus, Waisenhäusern und Adoptionsagenturen.
ACR-Generaldirektor Jürgen Conings warnt von einer pauschalen Verurteilung aller nepalesischen Waisenhäuser. "Es wird auch viel Gutes getan, zahlreiche NGOs und Sozialarbeiter machen hier gute Arbeit", erzählt er Pattisson. Doch eine Studie des staatlichen Central Child Welfare Board (CCWB) malt ein anderes Bild: Hiernach entsprächen über 90 Prozent der Waisenhäuser in Nepal nicht den Mindestanforderungen der Regierung, so der Guardian, und diese sei mit der schieren Zahl der Einrichtungen und dem Auftrag, diese zu überwachen, schlicht und einfach überfordert. Umso wichtiger, dass die Freiwilligen weltweit selbst beurteilen lernen, welche Einsätze für eine Gesellschaft sinnvoll und welche schädlich sind.