«Durch Literatur lernen wir uns selbst kennen»
Die Librairie Notre Dame wirkt wie eine Oase der Ruhe im hektischen Zentrum von Benins grösster Stadt Cotonou. Auf drei Etagen bietet die Buchhandlung, die in einem unauffälligen Bürogebäude an der vielbefahrenen Avenue Clozel liegt, ein breites Sortiment an Romanen, Kinder- und Schulbüchern. Obwohl dieses Angebot in der Hafenstadt des westafrikanischen Kleinstaats einmalig ist, läuft das Geschäft schleppend. "Literatur hat keinen hohen Stellenwert in unserer Gesellschaft", sagt die Verkäuferin. "Und selbst jene, die lesen können, haben oft nicht die Mittel, um Bücher zu kaufen."
Laut UNO-Statistiken sind in Benin nur 40 Prozent der Bevölkerung des Lesens und Schreibens mächtig. Das ist selbst im afrikanischen Vergleich wenig. Zwar ist die Einschulungsrate in den letzten Jahren gestiegen, noch immer aber fehlen einem Teil der jungen Bevölkerung solide Lesefähigkeiten – und damit auch der Zugang zu Literatur.
Mutige Verlagsgründung
Béatrice Lalinon Gbado will dies ändern. Nach ihrem Berufseinstieg als Lehrerin vor zwanzig Jahren realisierte sie rasch, dass die Schülerinnen und Schüler in Benin fast ausschliesslich mit europäischen Büchern aufwuchsen – mit "Geschichten, deren Umwelt sie nicht kennen, deren Kultur eine andere ist", so Gbado. Dabei habe die Literatur gerade für Kinder und Jugendliche die Funktion, die eigenen Wurzeln kennenzulernen, eine eigene Identität zu entwickeln. Da ein entsprechendes Literaturangebot in Benin fehlte, entschloss sich Gbado 1998 kurzerhand, ihren eigenen Buchverlagzu gründen. "Das war am Anfang nicht einfach. Der Markt war klein, die Druckereien waren schlecht ausgerüstet."
Doch der Mut der 54-Jährigen zahlte sich aus: Die Editions Ruisseaux d’Afrique gehört inzwischen zu den führenden Kinder- und Jugendbuchverlagen Westafrikas. Über 200 Titel von rund dreissig Autoren hat Gbados Haus bislang publiziert, sie selbst trug über vier Dutzend Bücher bei.
Im zweiten Stock der Buchhandlung liegen die reich illustrierten Bände des Verlags auf einem eigenen Tisch auf. Die meisten erzählen Geschichten aus dem beninischen Alltag: Einmal geht es um die Schule, einmal um die Suche nach den familiären Wurzeln, einmal ums laute Stadtleben. Obwohl ihre Bücher inzwischen auch in den Nachbarstaaten und in Frankreich verkauft werden, sieht sich Gbado noch nicht am Ziel. "Lange war Literatur nicht Teil unserer Kultur", sagt die Verlagsleiterin. "Das wandelt sich nun, doch es ist ein langsamer Wandel." Gbado ist überzeugt, dass Literatur ein wichtiger Entwicklungsfaktor ist: "Durch sie lernen wir uns selbst besser kennen. Das erst schafft die Grundlage für unsere Entwicklung."
Umgekehrte Vorzeichen
Szenewechsel. In einem kleinen Lokal im Basler Gundeldingen-Quartier, rund 4500 Kilometer nördlich von Cotonou, teilt man diese Überzeugung. Nur die Vorzeichen sind andere: Der gemeinnützige Verein Baobab Books fördert ebenfalls Stimmen der Kinder- und Jugendliteratur aus dem Süden. Er tut dies je-doch vorab mit Blick auf ein westliches Publikum. In den 1980er Jahren, als die "Fachstelle für interkulturelle Kinder- und Jugendliteratur" entstand, hätten authentische Stimmen aus dem afrikanischen, asiatischen oder lateinamerikanischen Umfeld in der Kinderliteratur im deutschsprachigen Raum fast komplett gefehlt, erklärt die Geschäftsführerin Sonja Matheson. Dabei sei in unserem multikulturellen Kontext und in einer globalisierten Welt der Perspektivenwechsel, den die Literatur er-mögliche, besonders wichtig: "Diese Horizonterweiterung ist ein wesentliches Element persönlicher Bildung.
"Baobab Books verlegt Kinder- und Jugendbücher von Autorinnen und Autoren aus Afrika, Lateinamerika, Asien und dem Nahen Osten in deutscher Übersetzung. "Oft sind es Bücher aus Kontexten, in denen Literatur kaum verbreitet ist", sagt Matheson. Sie nennt als Beispiel John Kilaka: Die Geschichten des Tansaniers sind in seiner Heimat nie erschienen. In Europa vermitteln seine aufwendig illustrierten Bücher Einblicke in eine Umgebung, die vielen unbekannt ist, die aber gerade Kindern und Jugendlichen helfen kann, die Welt etwas besser zu verstehen. Und offenbar trifft die Basler Fachstelle mit ihrem Angebot den Nerv der Zeit. Die Buchverkäufe seien jüngst deutlich angestiegen, sagt Matheson. Sie ist überzeugt, dass das Buch auch in Zeiten des digitalen Wandels eine wichtige Rolle spielt: "Bücher üben noch immer eine unglaubliche Faszination aus. Sie ermöglichen Differenzierung und Vertiefung und schaffen die Möglichkeit, in eine ganz andere Welt abzutauchen."