«Echte Entwicklung hängt niemanden ab»
global: Sie haben mit Märschen der Landlosen-Bewegung Ekta Parishad in Indien die Mächtigen herausgefordert. Jetzt wollen Sie Ihre Anliegen mit einem grenzüberschreitenden Marsch auf die globale Ebene bringen. Sie nennen die Aktion "Jai Jagat 2020". Wofür steht das?
Rajagopal P.V.: Übersetzt heisst Jai Jagat Sieg der Welt. Das kommt Gandhis Konzept von Sarvodaya («Wohlbefinden von allen») sehr nahe. Wenn es einen Sieg gibt, dann sollte es der Sieg der vereinten Menschheit sein und nicht der Sieg einer Nation über eine andere. Begonnen hat unsere Aktion am 2. Oktober 2019, dem 150. Geburtstag von Mahatma Gandhi. Den Schluss- und Höhepunkt setzen wir genau ein Jahr später in Genf, dem zweitwichtigsten Sitz der Vereinten Nationen.
Was passiert dazwischen?
Ursprünglich wollten wir zu Fuss von Indien in die Schweiz kommen. Pakistan bleibt uns wegen der Spannungen mit Indien nun leider verschlossen, weshalb wir die ersten vier Monate kreuz und quer durch Indien marschieren. Anfang Februar 2020 fliegen wir dann nach Abu Dhabi und gelangen von dort hoffentlich mit der Fähre in den Iran.
Ihr werdet aber nicht Hunderttausende sein…
Nein, anders als bei früheren Märschen werden wir aus logistischen Gründen nur mit etwa 200 Leuten losmarschieren, denn die Unterbringung der Marschierenden ist im Winter nicht einfach. In der warmen Jahreszeit draussen zu übernachten ist kein Problem für uns, da können wir gerne viel mehr sein. Die Kerngruppe wird nun aus 50 Leuten bestehen. In jedem Land sollen dann noch mindestens 150 für eine Teilstrecke zu uns stossen.
Jill Carr-Harris: Für die letzte Etappe nach Genf rechnen wir schon mit 5000 Leuten – es wird das Ergebnis des Jai Jagat-Sternmarsches sein, der sich im Spätsommer 2020 aus Schweden, Grossbritannien und Nordafrika auf den Weg machen wird. Und wir hoffen natürlich auch auf die Teilnahme vieler Schweizerinnen und Schweizer sowie von Menschen aus der Genfer Grenzregion, die uns zur UNO begleiten werden.
Wo führt ihre Route durch?
Rajagopal P.V.: Vom Iran nach Aserbaidschan und von dort über Armenien nach Georgien. Das Schwarze Meer werden wir im Schiff überqueren und in Bulgarien Europa erreichen. Via Serbien, Bosnien-Herzegowina und Kroatien gelangen wir in Split ans Mittelmeer und setzen mit dem Schiff nach Ancona in Italien über. In Assisi hoffen wir, Papst Franziskus zu treffen. Schliesslich werden wir in Brig die Schweiz erreichen und von dort das Rhonetal hinunter nach Genf gelangen. Dafür planen wir 22 Tage. Die Alpen bewältigen wir aber in einem Bus. Jai Jagat soll schliesslich kein Sportanlass, sondern ein Friedensmarsch sein (lacht).
Welche politischen Inhalte werden Sie auf dem Marsch im Gepäck haben?
Jill Carr-Harris: Überall auf unserer Route werden wir in Veranstaltungen und Gesprächen auf Themen Bezug nehmen, welche die Leute vor Ort beschäftigen. In Indien und Pakistan das von Gewalt geprägte gegenseitige Verhältnis, in Iran die nukleare Frage, aber auch die Spannungen zwischen Sunniten und Schiiten. Der Kaukasus ist ein Brennpunkt für den neuen Kalten Krieg zwischen Russland und der NATO, der Balkan einer für ethnisch-religiöse Konflikte.
Mit welchen Problemen sind Sie bei der Vorbereitung des Marsches konfrontiert?
So sicher uns die Unterstützung der Zivilgesellschaft ist, so schwierig ist es zuweilen mit den Behörden. Nehmen wir Italien, ein Land mit einer langen Tradition beim Empfang von Geflüchteten. Das verkehrte sich mit der von Matteo Salvini dominierten Regierung ins Gegenteil. Italien wird eine ganz wichtige Etappe von etwa 16 Tagen im Hochsommer 2020. Dass Ferienzeit ist, hilft uns hoffentlich, den Papst treffen zu können.
Soziale Bewegungen werden von den Regierenden weltweit immer stärker unter Druck gesetzt. Auch in Indien?
Rajagopal P.V.: Der kleiner werdende Spielraum für die Zivilgesellschaft ist ein grosses Thema für Organisationen, die auf Freiwilligenbasis arbeiten. Das Konzept der Menschenrechte wird im globalen Süden generell wenig geschätzt und auch von der indischen Regierung als westliches Instrument in Misskredit gebracht. Zwar geniessen NGOs, die Verbindungen zu internationalen Organisationen haben, einen gewissen Schutz, umgekehrt werden sie genau deswegen als "ausländische Agenten" angegriffen, deren Einfluss im Interesse der nationalen Entwicklung gebrochen werden müsse.
Dabei ginge es doch primär um die Frage, welche Entwicklung sich die Menschen wünschen…
Ja, "Entwicklung" kann sehr gewalttätig daherkommen. Und da kommt die Perspektive Gandhis ins Spiel. Er kämpfte für Selbstbestimmung. Gandhi interessierte sich nicht für einen mächtigen indischen Nationalstaat, der Dämme baut, ihm ging es um den Aufbau einer Föderation aus selbstbestimmten und souveränen Dorfgemeinschaften. Denn Entwicklung sollte nie die natürlichen Lebensgrundlagen der Leute in Frage stellen. So wie das grosse Rohstoffunternehmen tun, die dem Staat zudienen, politische Parteien finanzieren, damit Wahlen gewinnen und so auf höchster stattlicher Ebene Einfluss nehmen können. So läuft es jedoch heute und darum wird ein anderer Entwicklungsbegriff, der nicht blind jenem des industriellen Fortschritts folgt, so energisch bekämpft. Aber Gandhis Ideen sind natürlich – gerade auch in Afrika oder Lateinamerika – aktueller denn je.
Was sind die sozialen Folgen der Landnahme durch die Agroindustrie oder Rohstoffkonzerne und die damit verbundene Vertreibung der dort ansässigen Menschen?
Wir nennen diesen Prozess auch die Brasilianisierung Indiens. Wie dort sollen auch in Indien immer noch mehr Menschen in die Elendsquartiere der grossen Städte ziehen. Wer sich für funktionierende Trinkwasser- und Energieversorgung auf dem Land einsetzt, der wird als anti-indisch gebrandmarkt.
Wie sieht ihr Gegenmodell aus?
Jill Carr-Harris: Wir sagen, die DNA Indiens liegt nicht darin, eine Nuklearmacht zu sein, sondern ein Land, wo Buddha und Gandhi Gewaltlosigkeit und Friede gelehrt haben; das sind Instrumente, die auch die Allermächtigsten in die Knie zwingen können, das hat der Unabhängigkeitskampf gegen die britische Kolonialmacht gezeigt. Und genau diese Instrumente braucht die heutige Welt. Als wir das Konzept von Jai Jagat entwarfen, war unsere Frage: Was kann Indien der Welt geben? Es ist nach Gandhi die Vorstellung einer Welt ohne Grenzen und ohne Verlierer, in der es allen gut gehen soll.
Also ein Konzept, das jenem konkurrierender Nationalstaaten diametral widerspricht?
Rajagopal P.V.: Ja absolut. Und weil dieses alte Wissen dem westlichen Konzept von globaler Industrialisierung widerspricht, wird ihm heute die Berechtigung abgesprochen. Dabei macht die Behauptung, dass die Globalisierung jedes Problem lösen könne, die Menschen verrückt. Die Macht des Geldes und der Politik interessierten Gandhi nicht, er setzte auf moralische Macht. Als Indien unabhängig wurde, feierte er nicht, sondern arbeitete an der Versöhnung zwischen Hindus und Muslimen. Macht ohne Moral ist sinnlos, davon war Gandhi überzeugt. Was ökonomisch funktioniert, braucht noch lange nicht ethisch korrekt zu sein. Korruption, Armut und Elend werden von den ökonomischen Messgrössen wie dem BIP nicht abgebildet. Aber diese Logik regiert die Welt und wir haben dem zu lange tatenlos zugesehen.
Wie erklären Sie, dass Gandhi als indischer Nationalheld verehrt wird, obwohl er ein ganz anderes Weltbild vertritt als das moderne Indien?
Für viele Inderinnen und Inder ist Gandhi nicht so wichtig. Und es gibt eine sehr ernstzunehmende Tendenz, sein Erbe kaputtzumachen. Denn Gandhis Ideen sind zu herausfordernd, er spricht über Moral, über Einfachheit, über Ehrlichkeit – über all das, was viele Inderinnen und Inder nicht hören wollen, er ist damit eine ständige Quelle der Irritation.
Jill Carr-Harris: Gandhi ist mit seiner Philosophie gegen den Machtanspruch der Mehrheit angetreten. Doch heute wird das wieder legitimiert durch die Hindu-Mehrheit des indischen Premierministers und Hindu-Nationalisten Narendhra Modi. Genau gegen diese Ausgrenzung der anderen hat sich Gandhi gewehrt – und das ist auch eine Grundlage von Jai Jagat, mit dem wir dem grassierenden Nationalismus und Protektionismus etwas entgegensetzen wollen. Es geht um Teilhabe aller, um die Demokratisierung der Demokratie. Und natürlich hoffen wir, dass die Idee, mit der wir in die Welt hinaus marschieren, auch wieder auf Indien zurückwirkt.
Welche Rolle spielt die Gewaltfreiheit in der Frage um die Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern oder in der Klimadebatte?
Interessant ist, dass Gandhi in diesen Fragen aktuell geblieben ist. Egal ob moderne oder postmoderne Debatten, Gandhi schlägt mit seinen Ansichten den goldenen Mittelweg ein. Das kann all diese Kämpfe vereinen und zusammenführen. Feministinnen, die nicht auf die einsichtigen Männer zählen, werden nicht vom Fleck kommen. Wir brauchen Väter, die ihre Mädchen zu starken Frauen erziehen. Die Idee, alles als zusammenhängend zu sehen, ist für uns im Westen etwas Neues, das wir nicht gewohnt sind. Ein wichtiger Punkt dabei ist der lange Atem: Gandhi hat sich nicht für die kurze Frist interessiert, diese Kämpfe brauchen Geduld und viel Zeit und man muss seine Wut gegen die Ungerechtigkeit im Zaum halten können und konstruktiv bleiben. Sein verletztes Ego im Griff zu behalten, das ist gar nicht so einfach.
Ihr betont die direkte Verbindung von Jai Jagat zur Uno-Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung (SDGs). Inwiefern ist das so?
Rajagopal P.V.: Was ist Gandhis Vermächtnis? Er wollte mit seiner Arbeit die absolut Machtlosen ermächtigen. Für ihn ging es beim Thema Entwicklung immer darum, dass niemand abgehängt werden soll. Der Kerngedanke der SDGs, niemanden zurückzulassen (Leave no one behind) ist im UNO-Kontext fast schon eine Erleuchtung (lacht). Wir brechen auf vom Grab Gandhis, marschieren durch all diese Länder und bringen diese Botschaft, niemanden zurückzulassen, zurück an den Sitz der UNO in Genf. Denn es ist offensichtlich, dass in einer globalisierten Welt für die Letzten kein Platz ist. Die Agenda 2030 wird einfach eine schöne Wunschliste bleiben, wenn sich die Zivilgesellschaft nicht Raum schafft und laut und deutlich ihre Vorstellungen dieser Agenda einbringt. Wenn multinationale Konzerne über Erde, Luft und Wasser verfügen, wenn die Menschen nicht mehr über ihr eigenes Leben bestimmen, wie soll dann die Armut ernsthaft bekämpft werden können? Die Agenda 2030 ist für die Menschen da und nicht für die Regierungen. Die UNO muss die Regierungen dazu bringen, auf die Menschen, auf die Zivilgesellschaft zu hören. Wir hoffen, die weltweite öffentliche Meinung mit Jai Jagat in diesem Sinn beeinflussen zu können.
In welchem Sinn konkret?
Technologische Lösungen werden für den Bau einer besseren Welt keinesfalls genügen, wir handeln uns damit nur neue Probleme ein. Es braucht ein ganzheitliches Denken, wir müssen auf die Beziehungen zwischen einzelnen Dimensionen unserer Gesellschaften fokussieren statt jedes Thema für sich alleine zu betrachten. Auch diese Philosophie ist Teil der SDGs. Wenn wir im Oktober 2020 in Genf ankommen, wollen wir Gespräche auf höchster Ebene führen: Mit Verantwortlichen der Weltbank, des Internationale Währungsfonds und der Welthandelsorganisation. Denn deren Entwicklungs-, Finanz- und Handelspolitik steht in krassem Gegensatz zu den Inhalten der Agenda 2030. Aber die UNO schweigt dazu, es fehlt an Kohärenz.
Wie aber wollen Sie jene dazu bringen, ihr Verhalten zu ändern, die von den jetzigen Verhältnissen profitieren?
Jill Carr-Harris: Wenn die Leute einmal die Kraft der Kollektive entdecken, dann wird der trügerische Reiz des Geldes abnehmen. Die Reichen verbunkern sich zunehmend in gated communities, weil sie sich vor der Aussenwelt fürchten. Ihr Individualismus schützt sie aber nicht mehr, Sicherheit kann es nur gemeinsam mit anderen geben.
Wie erklären Sie sich, dass Sie mit Ihrer Botschaft tatsächlich auch von Ministerinnen und Wirtschaftsführern angehört werden?
Rajagopal P.V.: Unsere Philosophie ist eine von Widerstand und Dialog. Das eine braucht das andere. Kriege werden nicht auf dem Schlachtfeld beendet, sondern dann, wenn die Gegner wieder zurück finden zum Gespräch. Ich habe diese Erfahrung bereits 1972 gemacht als niemand mit den landlosen Banditen in Chambal sprechen wollte und ich zwischen Ministern und den Gesetzlosen vermittelte. Niemand konnte es glauben, als diese Outlaws ihre Maschinenpistolen vor einem Gemälde Gandhis niederlegten. Der Wechsel von nackter Gewalt zum Dialog kann eine ungemeine Kraft entwickeln. Leider wissen viele führende Persönlichkeiten immer noch nicht, wie man Konflikte zivilisiert löst, stattdessen verstecken sie sich hinter Sicherheitskräften, welche die Leute verprügeln. Persönlich bin ich überzeugt, dass wir die Fähigkeit zum Dialog, zur Überwindung von Polarisierung brauchen, wenn es der Welt besser gehen soll. Dafür machen wir uns auf den Weg und dafür kommen wir im Oktober 2020 nach Genf, um einen sehr ernsthaften Dialog zu führen. Walk walk, talk talk.