Mirko Pichierri ist ein bescheidener Mann. Es braucht etwas Zeit, bis er seine Zurückhaltung im Verlaufe des Gesprächs über den gemeinschaftlichen Ökotourismus ablegt. Als er jedoch zu beschreiben beginnt, was in der Region derzeit alles passiert, kann er seine Begeisterung nicht verbergen. Ende 2014 wurde die Kooperative für den gemeinschaftlichen ländlichen Tourismus und Umweltschutz COTUCPROMA (Cooperativa de turismo rural comunitario protectores del medio ambiente) gegründet: Eine ganze Region engagiert sich für ein grosses Projekt, um neue Wege zu finden, den negativen Folgen des Klimawandels entgegenzutreten. Dank dieser Unterstützung wird ein nachhaltiger und gemeinschaftlicher Tourismus gefördert, der die am stärksten betroffenen Bauernfamilien mit einbezieht und den Fokus auf die vorhandenen Ressourcen richtet.
Gemeinschaft statt Konkurrenz
Als Mirko Pichierri 2014 als COMUNDO-Fachperson nach Nicaragua kam, war eigentlich etwas ganz anderes geplant. Sein Projekt bei der lokalen Partnerorganisation UCANS, einer Bauerngenossenschaft im Norden der Region "Las Segovias", konzentrierte sich auf die Herstellung von lokalen Agrar- und Nahrungsmitteln, um sie an Supermärkte zu verkaufen. Die Kalkulation der Produktionskosten zeigte jedoch bald, dass es für diese Initiative keinen Markt gab. Also suchte Mirko Pichierri mit den Mitarbeitenden von UCANS nach Alternativen, und sie wandten ihre Aufmerksamkeit einem Umweltschutzprojekt zu, bei dem 60 000 Bäume gepflanzt, Umweltwanderungen gefördert und junge Umweltschützer/innen ausgebildet wurden. Diese arbeitsintensiven Monate bildeten die Grundlage für das Fortbestehen des Vereins.
2014 war für Nicaragua ein schwieriges Jahr. Es herrschte eine schlimme Dürre und die Kaffeeplantagen wurden von einer Krankheit befallen, sodass 100 000 Familien vor einer ungewissen Zukunft standen und Hunger litten. Es brauchte daher neue Einkommensquellen und Strategien, um auf den Nahrungsmittelnotstand zu reagieren. UCANS und Mirko Pichierri stellten daher Forschungen an und sammelten monatelang Daten. Das Ergebnis war ein umfassendes Bild der Region und ihrer Möglichkeiten.
Ökotourismus als strategisches Mittel
"Die Fähigkeiten der lokalen Vereine sind beschränkt. Es fehlt ihnen an Projekten, um die Mittel, die vom Norden kommen, effizient einzusetzen", erklärt Mirko Pichierri. Er ist Chemiker, besitzt einen Master in internationaler Politik und Entwicklungszusammenarbeit und interessiert sich speziell für das Projektmanagement und den Lebenszyklus von Produkten. In Somoto war die Kombination der Faktoren ideal: Der Tourismus war bereits Thema des – allerdings erst auf Papier bestehenden – regionalen Entwicklungsplans. Mirko Pichierri war der ideale Verbindungsmann zwischen Behörden, lokalen Gemeinschaften und internationalen Gruppierungen. "Das hat uns geholfen, das Projekt zu erweitern: Die Institutionen wurden zu unseren Partnern und Ko-Finanzierern." Das Projekt für einen gemeinschaftlichen und nachhaltigen Tourismus wurde schliesslich der Abgeordnetenversammlung vorgelegt und als nationale Priorität anerkannt. Es gilt nun als strategisches Mittel zur Bekämpfung der Folgen des Klimawandels. Die am stärksten betroffenen Familien wurden beispielsweise in den Bau von touristischer Infrastruktur mit einbezogen und erhielten dafür einen Lohn, mit dem sie ihre Nahrungsmittelkrise überwinden konnten. Auf diese Weise entstanden zwei Aussichtspunkte und zwei kleine Läden, in denen regionale Handwerksprodukte verkauft werden.
Die wissenschaftlichen Untersuchungen brachten einiges zutage, und das Projekt entwickelt sich in alle Richtungen weiter: von der Archäologie zur Gastronomie, vom Handwerk zur Landwirtschaft, vom Tourismus zur Folklore. Unterschiedlichste Initiativen werden verfolgt, die zu einem ganzheitlichen regionalen Tourismusangebot beitragen. Ziel ist eine Zunahme der Anzahl Übernachtungen – zurzeit übernachten nur rund zehn Prozent der 30 000 Gäste pro Jahr vor Ort. Die ländlichen Gemeinden zum Beispiel wurden über das Projekt "Murales" verschönert – dabei gestalteten die Menschen gemeinsam grossflächige Wandbilder. Gleichzeitig wurden auch junge Künstler ausgebildet. Alleinstehende Mütter sowie Jugendliche wurden in Handwerk und Küchenkunst geschult, um ihnen neben der Subsistenzlandwirtschaft einen Zusatzverdienst zu ermöglichen. Ausserdem konnten einige geologisch und archäologisch bedeutsame regionale Stätten zugänglich gemacht, unter Schutz gestellt und katalogisiert werden. Der Weg ist vorgezeichnet, das Potenzial ist riesig: "Wir könnten als erster Ort in Zentralamerika von der Unesco als Welterbe anerkannt werden!", freut sich Mirko Pichierri.
Die touristische Attraktivität der Gemeinde Somoto hatte lange zu Problemen und potenziellen Konflikten geführt. Die Hauptsehenswürdigkeit, der Cañon del Río Coco, lockt Jahr für Jahr rund 30 000 Besucher/innen an. Doch unter der lokalen Bevölkerung kam es deswegen zu Spannungen, Unstimmigkeiten und Groll. "Nur das Dorf am Eingang zum Canyon profitierte, sodass es zu einem eigentlichen Rennen um die Touristen kam. Dabei wurde viel improvisiert und es fehlte an einem professionellen Service. Alle wollten möglichst viel verdienen und kümmerten sich nur um ihre eigenen Familien", so Mirko Pichierri.
Um die Gemeinschaft mit einzubeziehen, brauchte es viel Kommunikations- und Sensibilisierungsarbeit. Ziel war die Zusammenarbeit, nicht die Konkurrenz, und zwar im Bündnis mit den lokalen Institutionen. Daraus entstand eine der zahlenmässig grössten Kooperativen Nicaraguas mit 68 Mitgliedern, zu der Touristenführer/innen, Handwerker/innen sowie Vertreter/innen der Institutionen und der Gemeinschaften gehören. Das Touristenangebot wurde mit Beteiligung aller Einwohner/innen ausgearbeitet und es wurden Regeln betreffend Rotation, Qualität der Dienstleistungen, Preise und Politik der sozialen Entwicklung aufgestellt. Die Einnahmen konnten dadurch auf mehrere Akteure/-innen verteilt werden und tragen heute zur ganzheitlichen gemeinschaftlichen Entwicklung bei.