Gut hundert Augenpaare sind auf uns gerichtet, erwartungsvoll, neugierig. Der Versammlungsraum der Schule der Mission Mariazell ist an diesem Septemberabend bis zum letzten Platz besetzt. Jacob, der Schulleiter, heisst uns willkommen und stellt uns vor: Vier ausländische Gäste und zwei Journalistinnen, die am Weltgipfel für nachhaltige Entwicklung in Johannesburg teilgenommen haben und nun im Rahmen des Projektes „Fair Trade in Tourism“ die Mission besuchen. Dann erfüllen hundert jugendliche Stimmen den Raum, ein perfekter Chor, aufeinander abgestimmt, gekonnt, volltönend, und doch vollkommen spontan und ungehemmt. Wo in der Schweiz würde man einen Saal voller 12- bis 18jähriger so singen hören? Mit spürbarer Begeisterung führen uns die Jugendlichen während der nächsten Stunde traditionelle Gesänge und Tänze vor. Jacob erläutert für die Gäste: Dies ist ein Lied, das die jungen Männer beim Beschneidungsritual singen, dann folgt ein Tanz einer Gruppe von Mädchen, der den Flug der Vögel symbolisiert. Es gibt Angehörige verschiedener Stämme und Volksgruppen in der Schule, deshalb legt man Wert darauf, die musikalische Kultur eines jeden zu pflegen.
Das Konferenzzentrum von Johannesburg scheint sehr weit weg an diesem Abend, als uns die Schülerinnen und Schüler von Mariazell zum Schluss der Vorstellung die Hände schütteln, einige mit schüchtern gesenktem Blick, andere selbstbewusst, mit herausforderndem Lächeln. Wir sind zutiefst beeindruckt von der Atmosphäre, die hier herrscht. Es wird klar, dass auch für die Jugendlichen unser Besuch ein besonderes Ereignis war: dass ausländische Gäste sich für sie und ihr Leben interessieren, bedeute ihnen viel, sagt Jacob.
Die Mission von Mariazell ist eine der Stationen unserer dreitägigen Reise in die Drakensburg Mountains im Grenzgebiet von Südafrika und Lesotho. Es ist die erste Reise dieser Art im Rahmen des  Projektes „Fair Trade in Tourism“. Ziel ist es, die Region auf nachhaltige Weise für den Tourismus zu erschliessen, unter Beteiligung der lokalen Bevölkerung. Besucherinnen und Besucher sollen fernab der ausgetretenen Touristenpfade einen persönlichen Eindruck vom Land und seinen Bewohnern erhalten. In den besuchten Orten ist die ganze Dorfgemeinschaft in der einen oder andern Form involviert: einige beherbergen Besucherinnen, andere liefern Gemüse, Eier oder Brot, wieder andere übernehmen die Wäsche oder fungieren als Chauffeure. So kommen die Einnahmen allen zugute. Für die ausländischen Gäste bedeutet dies, dass die persönlichen Kontakte zustande kommen, die man bei kommerziellen Reisen vermisst: nach dem Abendessen trifft man sich mit der Nachbarschaft zu einem Glas Whiskey und einer Zigarette auf der hinteren Terrasse der Gastgeberin. Man unterhält sich über Gott und die Welt, die Gesprächsthemen reichen von der politischen Situation in Lesotho und der Schweiz bis zum Austausch von Witzen und Anekdoten.
Auf die Minute geplante Reisen im Car, klimatisierte  Doppelzimmer mit Fernseher und Weckanruf am Morgen oder zwei heisse Duschen im Tag erwartet hier niemand. Der besondere Reiz dieser Reise ist, in den Alltag des Landes einzutauchen, persönliche Bekanntschaften zu knüpfen und ein Afrika zu erleben, das ganz anders ist, als man es den Medienberichten über politische Krisen und Kriminalität in der Grossstadt Johannesburg entnehmen kann. Dafür nehmen wir gerne in Kauf, dass die Überquerung des Grenzpasses Ongeluk’s Neck im Landrover drei Stunden länger als vorgesehen dauert, weil der Regen die steile Bergstrasse in eine Art Schlammkanal verwandelt hat. Touristinnen und Betreuer legen gemeinsam Hand an beim Abhacken von Geäst, das auf die Strasse gelegt wird, um das Durchdrehen der Räder zu verhindern, und beim Montieren von Ketten, die im Schlamm den gleichen Zweck erfüllen wie auf einer schneebedeckten Schweizer Bergstrasse. Das gemeinsame Abenteuer und das Gelächter über unser schlammbedecktes Aussehen lassen unsere kleine Gruppe von Begleitern und Begleiteten zu einer Gemeinschaft zusammenwachsen.
Als wir uns auf dem Flughafen von Maseru in Lesotho von unsern Betreuern verabschieden, um nach Johannesburg zurückzufliegen, sind wir erfüllt von den Bildern dieser besonderen Reise, aber auch ein wenig traurig, weil wir unsere neuen Freundinnen und Freunde zurücklassen. Wir wünschen ihnen weitere Gäste, die wie wir neugierig sind auf dieses andere Afrika, und die dazu beitragen, dass „Fair Trade in Tourism“ Wirklichkeit wird.
Katharina Kummer Peiry, Sophie Michaud Gigon, Franz Perrez
Weitere Informationen: Fair Trade in Tourism South Africa, www.fairtourismsa.org.za; Marianne Frei: “fair unterwegs in Südafrika und Namibia”, Arbeitskreis Tourismus & Entwicklung 2002