Schon einmal war ich im Einsatz in Myanmar, damals in der Delta-Region im Süden. Nach der Verheerung des gesamten Landstriches durch den Zyklon Nargis war es 2008/2009 meine Aufgabe, die Überlebenden psychologisch zu stützen und posttraumatische Belastungsstörungen vermeiden zu helfen.
Die medizinische Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen/ Médecins sans Frontières (MSF) hat bereits während des Bosnienkrieges erkannt, dass der Einsatz von PsychologInnen ein wichtiger Faktor bei der "Genesung" von Überlebenden nach Naturkatastrophen und Kriegshandlungen ist. Die grösste Herausforderung für unsere Arbeit stellen vor allem die Sprache und eine grundlegende Kenntnis der jeweiligen Kultur, der Sitten und Gebräuche dar. Sie müssen eingebettet in das politische System des Staates und der sozialen Strukturen gesehen werden.
Bereits bei meinem Einsatz im Delta war ich mit einer Gesellschaft konfrontiert, die sehr vom Aberglauben, von einer extremen Verschwiegenheit und einem gelernten Misstrauen Fremden gegenüber geprägt ist.
Seit dem Juni 2012 hat der Ausbruch des gewaltreichen Konflikts zwischen Buddhisten und Muslimen in Myanmar (siehe Kasten) zu vielen Verletzungen und auch zu schweren Traumatisierungen in beiden Bevölkerungsgruppen geführt. Deshalb wurde beim Hilfseinsatz von MSF auch psychologische Betreuung vorgesehen.
Grundsätzlich ist der erste Schritt bei einem Einsatz in einem Krisengebiet die Erhebung des Bedarfs. Bereits während der Evaluierung begann ich mit einem Assistenten, der Englisch und Burmesisch spricht und den ich bei meinem früheren Aufenthalt ausgebildet hatte, von anderen Organisationen überwiesene Fälle zu prüfen und mit den Betroffenen zu arbeiten. Sehr bald stellte sich heraus, dass ein weiterer Mitarbeiter notwendig war, der von der muslimischen Bevölkerung akzeptiert wurde.
Unverzüglich entwarfen wir Poster und ein einfaches für AnalphabetInnen verständliches Informationsblatt über die emotionalen Auswirkungen traumatischer Erlebnisse und eine mögliche Behandlung. Gruppendiskussionen und -arbeiten mit dem Ziel der Stressbewältigung sind eine gute Möglichkeit, TeilnehmerInnen Mut zu machen, sich für Einzelsitzungen zu melden.
Gleichzeitig sind die lokalen medizinischen Fachkräfte von MSF, welche in HIV- und Malariaprojekten, aber auch mit Eltern von mangelernährten Kindern unter fünf Jahren arbeiten, sensibilisiert. Wenn sie psychosomatische Ausprägungen des Belastungsstresses erkennen, überweisen sie die Betroffenen an die psychologische Betreuung.
Aisha*, ein 15-jähriges Mädchen aus einem Dorf im Norden Rakhines, kam über eine Menschenrechtsorganisation zu uns. Zuerst wurden Aisha unsere Prinzipien der Vertraulichkeit und Anonymität erklärt, auch wurde ihre Zustimmung zur Anwesenheit des muslimischen Dolmetschers eingeholt. Aisha war schon in der ersten Stunde bereit, über ihre Erlebnisse zu sprechen: Zwei bewaffnete Soldaten in Uniform waren in ihr Elternhaus gekommen, einer hielt den Vater mit vorgehaltenem Gewehr in Schach, der zweite vergewaltigte sie mehrfach, fügte ihr Verletzungen zu und nahm ihr die für Muslime so wichtige Jungfräulichkeit. Seit diesem Ereignis konnte Aisha kaum schlafen, erschrak bei den leisesten Geräuschen und verlor an Gewicht. Sie fühlte sich schmutzig und würdelos.
Mit einer bestimmten Atemtechnik lernte Aisha, ihr erhöhtes Stressniveau zu reduzieren. In dieser Phase der Entspannung wurde sie aufgefordert, ein Ziel für ihre Zukunft zu visualisieren. Die Intention bei traumatisierten PatientInnen ist es, ihnen eine einfache Handhabe zu vermitteln, wie sie ihren physiologischen Stress reduzieren, über ihre Situation reden und ein positives Bild für die Zukunft entwickeln können. Nach drei Sitzungen erklärte Aisha, dass sie gerne den Beruf einer Schneiderin erlernen würde. Durch Vermittlung an eine UN-Behörde wurde Aisha die Finanzierung der Ausbildung zugesagt. Gleichzeitig erfolgte auch eine kognitive Umstrukturierung ihrer Annahmen, nicht ins Dorf gehen zu können, da alle wüssten, dass sie vergewaltigt worden sei. Nach Stärkung des Bildes, dass sie alles getan hatte, um sich zur Wehr zu setzen, konnte sie sich vorstellen, den Leuten zu sagen: "Wo wart ihr, als ich geschrien habe? Warum seid ihr mir nicht zu Hilfe gekommen?"
Mein Einsatz in Myanmar ist nach vier Monaten zu Ende. Ich bin zuversichtlich, dass durch die Auswahl von acht lokalen Beratern und Beraterinnen, deren Schulung und laufende Supervision durch meine Nachfolgerin, sowie die beiden Assistenten gute Voraussetzungen dafür geschaffen wurden, den betroffenen Menschen in diesem Konfliktgebiet beizustehen und ihre psychische Befindlichkeit zu verbessern.
*Name von der Autorin geändert


Gewalt zwischen religiösen Gruppen

Ein Grossteil der Bevölkerung Myanmars (Burma), nämlich 89 Prozent, ist buddhistisch, vier Prozent sind muslimischen Glaubens. Zu den Muslimen gehören auch schätzungsweise 750’000 staatenlose Rohingya, die überwiegend im Teilstaat Rakhine, im Westen des Landes an der Grenze zu Bangladesch, leben. Die Behörden zählen sie nicht zu den anerkannten ethnischen Minderheiten. Ihre Rechte sind stark eingeschränkt. Die Vereinten Nationen bezeichnen die Rohingya als eine der am stärksten verfolgten Minderheiten der Welt.
Spannungen zwischen Buddhisten und Muslimen herrschen bereits lange. Seit Monaten kommt es in Rakhine jedoch zu gewaltsamen Auseinandersetzungen mit Überfällen, Tötungen, Vergewaltigungen und Brandschatzungen. Auf buddhistischer Seite wird die Aufhetzung durch eine radikale religiöse Gruppe mit Namen 969 vermutet. Die Behörden machen aber auch die Rohingya für die jüngste Gewalt verantwortlich.
Sicher sind es nicht zuletzt Versäumnisse und Massnahmen des Staates in den vergangenen Jahren, die die Konflikte angeheizt haben. Sie gefährden inzwischen sogar den Demokratisierungsprozess des Landes, meinen BeobachterInnen. Es gehe dabei nicht zuletzt um Macht und Einfluss, den sich buddhistische Mönche sichern wollen.